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Erfurter Herbstlese
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März 31 2022

Spannende Zeitreise mit einer Journalisten-Instanz in der Kaufmannskirche

Applaus für Aust

„Ich habe“, sagt Stefan Aust in der Erfurter Kaufmannskirche, „immer sehr viel gearbeitet und tue es immer noch.“
„Ich habe“, sagt Stefan Aust in der Erfurter Kaufmannskirche, „immer sehr viel gearbeitet und tue es immer noch.“

Von Sigurd Schwager 

Als der Spiegel vor Zeiten bekannten Sitzenbleibern eine genderfreie Fotogalerie widmete, da schaute man auf eine disparate Elf: Peer Steinbrück, Thomas Mann, Otto Waalkes, Harald Schmidt, Winston Churchill, Mehmet Scholl, Johannes B. Kerner, Edmund Stoiber, Christian Wulff, Jürgen Fliege und Winfried Kretschmann. Dabei hätte das Hamburger Nachrichtenmagazin auch im eigenen Haus prominent fündig werden können, und zwar in Gestalt seines vormaligen Chefredakteurs, der immerhin von Dezember 1994 bis März 2008 auf dem Schleudersessel saß.

Jetzt, am vorletzten Märztag 2022, sitzt Stefan Aust in der lichten Erfurter Kaufmannskirche auf einem flachen Podest vor dem prächtigen Altar aus dem 17. Jahrhundert, um zur Frühlingslese sein jüngstes Buch „Zeitreise“ vorzustellen. Dabei wird er im Verlauf der Veranstaltung auch manches erwähnen, was nicht in dem spannenden Wälzer steht. Zum Beispiel die Schulzeit verlängernde Maßnahme, damals am Athenaeum in seiner Geburtsstadt Stade. Und wie dann für den Sitzenbleiber Aust mit 66 Jahren das Schulleben noch einmal anfängt: als Festredner in der Aula zum 425. Geburtstag des Gymnasiums. Selbigem reserviert übrigens die aktuelle Aust-Vita im Netz einen schönen Platz. Dort wird die genossene Ausbildung kurz und bündig in vier Wörtern zusammengefasst: „Abitur am Athenaeum Stade“.

Dass nun so viele Menschen an einem kalten Frühlingsabend in das Gotteshaus am Erfurter Anger gekommen sind, um den ausgebildeten Abiturienten zu erleben, verwundert nicht. Stefan Aust, der im Sommer 76 wird, was man ihm wirklich nicht ansieht, ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Journalisten der vergangenen Jahrzehnte.

Nach dem kräftigen Empfangsbeifall für die hanseatische Journalisten-Instanz und den Erfurter Gesprächspartner Boris Lochthofen, Chef des MDR-Landesfunkhauses Thüringen, könnte die Lesung beginnen, wenn es denn eine Lesung gäbe. Aber die findet nur im Hörbuch statt, wo Aust, wer sonst, den gekürzten „Zeitreise“-Aust vorliest. Satte 1091 Minuten lang. In Erfurt blickt Stefan Aust in den gut gefüllten Kirchenraum und sagt „Lesen können Sie selber.“ Es folgen  sodann 120 pausenlose Minuten freier Rede voll anregender Nachdenklichkeit, zu deren Gelingen der ebenso eloquente wie kundige Moderator Lochthofen auf Augenhöhe beiträgt.

Nein, eine klassische Autobiografie ist die Zeitreise nicht. Privates bleibt bis auf wenige Ausnahmen privat. Hier wird ein großes, an Wendungen reiches Journalistenleben im Zeitraffer besichtigt, das für den Landwirtssohn schon in der achten Klasse bei der Stader Schülerzeitung „Wir“ seinen Anfang nimmt.

1966 wechselt der Abiturient direkt von der Schulbank als Redakteur zur linken Zeitschrift „konkret“. Weiter geht es 1970 zum Norddeutschen Rundfunk, wo er viel für das wirkungsmächtige „Panorama“ arbeitet. Er gründet 1988 das Reportage-Magazin Spiegel TV, leitet und entwickelt es, wird 1994 Spiegel-Chefredakteur und findet nach dem eher unfreiwilligen Abgang mit N24 zurück ins Fernsehgeschäft. Heute ist er Herausgeber von Springers Welt und Welt am Sonntag.

Und als ob all das nicht schon genug wäre für ein Dutzend Berufsleben im medialen Getriebe, macht er sich auch als Autor einen Namen. Aust schreibt den internationalen Sachbuch-Klassiker „Der Baader Meinhof Komplex“, arbeitet an Eichingers gleichnamigem Film mit, liefert das Drehbuch für „Stammheim“, ist mit Bestsellern wie „Mauss. Ein deutscher Agent“ oder „Der Pirat“ erfolgreich und verfasst mit Dirk Laabs das fast 1000seitige Werk „Heimatschutz. Der Staat und die Morde der NSU“.

Wie man ein solches Pensum schaffe, möchte in Erfurt der gewiss auch nicht unterbeschäftigte Moderator von Aust wissen. „Ich habe“, antwortet er, „immer sehr viel gearbeitet und tue es immer noch.“ Weil das allein den Erfolg nicht erklärt, muss sich das Publikum hinzudenken, was er einige Minuten früher formuliert hat: „Ich bin ein überdurchschnittlich durchschnittlicher Mensch.“ Das sei durchaus ernst gemeint und bedeute für seine Themenwahl: „Ich kann nur das machen, was mich selbst interessiert.“ Augsteins Credo sei auch das seine: Nicht den Leuten erzählen, was sie zu denken haben, sondern sagen, was ist.

Im Buch wie in Erfurt kommt er auch auf die Zufälle zu sprechen, die an den Weg-Gabelungen des eigenen Lebens warten. Wäre am Athenaeum in der Schülerzeitung nicht ein gewisser Wolfgang Roehl gewesen, hätte Aust vermutlich kaum dessen älteren Bruder kennengelernt, den konkret-Herausgeber Klaus Rainer Roehl, der wiederum mit Ulrike Meinhof verheiratet ist, die später mit der Roten Armee Fraktion der Bundesrepublik den Krieg erklären wird. Oder ein zweites Beispiel: Wäre nicht der Vater von Austs damaliger Freundin der Meinung gewesen, sein bester Freund Rudolf Augstein müsse unbedingt diesen jungen Reporter kennenlernen, dann hätte der berühmte Verleger bei dem Treffen in seinem Haus nicht prophezeien können, was sich 25 Jahre später bewahrheitet: „Du wirst mal Chefredakteur des Spiegels.“

Andererseits erzählt Stefan Aust auch, wie im Falle der Estonia-Recherche Zufall, Glück und Bauchgefühl einen blamablen Beitrag verhindern, der ihm Reputation und am Ende wohl auch vorzeitig den Job gekostet hätte.

Was die Rezensenten des Buches loben, findet man auch zu jeder Minute in der Kaufmannskirche bestätigt: Wer die Polit-Skandale der letzten 50 Jahre im Zeitraffer, mit subjektivem Einschlag und einer enormen Faktendichte nachlesen möchte, sich für die Pressegeschichte der Zeit interessiere, der sei mit der Zeitreise des Insiders Aust bestens bedient. FAZ-Feuilletonist Claudius Seidl skizziert den Journalistenkollegen trefflich: „Er ist dabei, er schaut zu, er beschreibt. Und dass diese nüchternen Protokolle des Geschehens oft einen großen Zauber haben, ist nicht nur eine der Stärken des Buches. Es liegt am womöglich größten Talent von Stefan Aust, dem Talent, dabei zu sein, wenn etwas passiert.“ Und, könnte man hinzufügen, dabei fast jede wichtige Person der Zeitgeschichte hautnah erlebt zu haben.

Wladimir Putin kommt in der Zeitreise, die vor dem Krieg in der Ukraine geschrieben wurde, viermal vor. Eine in Erfurt vom Moderator angesprochene Szene handelt in St. Petersburg von der feierlichen Rückgabe eines Fragments des Bernsteinzimmers am 28. April 2000. Der frischgewählte russische Präsident schwebt mit Helikopter zum Staatsakt ein und würdigt „unsere deutschen Freunde“. 22 Jahre später wirkt das gespenstisch und sogar der immer gefasste Stefan Aust ratlos. „Ich verstehe Putin überhaupt nicht mehr, auch nicht aus seiner Sicht.“ Aberwitzig, schrecklich sei das. er könne nur hoffen, dass irgendeine Form von Kompromiss dem ein Ende setze. Ein solches Gefühl großer Gefahr, sagt der in vielen Krisen erprobte Mann, habe er noch nie verspürt.

Da rücken auch Dinge in den Hintergrund, die er noch machen möchte und zu denen ihn Boris Lochthofen abschließend in Erfurt befragt. Gern finden, antwortet Aust mit blitzenden Augen hinter der Brille, würde er natürlich das Bernsteinzimmer. Zum anderen glaube er, dass weder der Tod von Uwe Barschel noch die Mordserie des NSU endgültig aufgeklärt seien.

So gesehen darf man den letzten Satz des Buches als Versprechen nehmen: „Langweilig wird es nie auf dieser Zeitreise, die das Leben ist, bei den Beobachtungen am Rande der Geschichte.“

Viel Applaus für zwei hoch interessante Frühlingslese-Stunden.

 

 

Stefan Aust „Zeitreise"
ISBN: 3492070078
Piper Verlag
26,00 €

 

Das Buch kann über diesen Link bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel bestellt werden.

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