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Okt. 12 2017

Der Soziologe Hartmut Rosa stellt sein Buch „Resonanz“ im ausverkauften Kultur: Haus Dacheröden vor (Teil 1)

Der Mensch als Resonanzwesen

Hartmut Rosa ist Professor in Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt.
Hartmut Rosa ist Professor in Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt.

Von Sigurd Schwager

Als der intensive Denk-Abend mit Lesung, freier Rede, Frage und Antwort sich neigt, fragt der Professor lächelnd in die Runde, ob sein Publikum jetzt vielleicht etwas erschöpft sei. Dieses lächelt nickend zurück - und hätte doch gleichwohl gern noch die eine oder andere weitere Stunde zugehört. Denn der Herbstlese-Gast Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Erfurter Max-Weber-Kollegs, hat gerade im ausverkauften Haus Dacheröden eindrucksvoll jene Qualität demonstriert, die das Philosophicum Lech veranlasste, ihm für sein Buch „Resonanz“ den renommierten Tractatus-Essaypreis zu verleihen.

Begründung: „In seinen weit ausholenden Analysen untersucht Hartmut Rosa die Grundelemente menschlicher Weltbeziehungen und endet bei nichts weniger als einer Neuformulierung der Kritischen Theorie. Seine immer anregenden, originellen, die Fachsprache nicht meidenden, aber den Fachjargon ausblendenden Studien bieten Stoff in Hülle und Fülle, wie wir unter den modernen Bedingungen leben wollen. Ein Buch für alle und jeden.“

Sofern, das sei einschränkend gesagt, man die Anstrengung nicht scheut, die „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ verheißt. Es braucht einen langen Atem. Mehr als 800 Seiten sind zu bewältigen. 31 Seiten Literaturverweise von Theodor Adorno bis Friedrich Schiller und 16 Seiten Register gibt es. Vorreden und Einleitungen halten bis Seite 79 an, danach erst beginnt Teil 1.

Im Haus Dacheröden liest Dr. Katharina Held von der Universität Erfurt, die die Veranstaltung mit der Herbstlese trägt, zunächst Passagen aus „Resonanz“. Zu hören sind Ausschnitte aus dem Vorwort-Ersatz „Die Geschichte von Anna und Hannah und die Soziologie“, handelnd von einem Tag im Leben zweier Frauen in den sogenannten besten Jahren. Die eine erlebt einen gelungenen, die andere einen misslungenen Tag, obwohl sich die faktischen Abläufe nicht unterscheiden, Ressourcenausstattung und Optionen ganz gleich sind.

Er wolle weder moralisieren noch einen Ratgeber verfassen, schreibt Rosa, sondern als Sozialwissenschaftler nüchtern fragen, was sich über die sozialen Bedingungen feststellen lässt, die Annas Leben gut und Hannahs Leben unglücklich werden lassen. Denn es erscheine ihm unwahrscheinlich, dass für den Unterschied nur Gene oder Hormone verantwortlich sind. Es seien unübersehbar soziale Situationen, insofern sie durch soziale Beziehungen konstituiert oder zumindest gerahmt werden.

Wichtig an dem Text sind vor allem die beiden Sätze, die ihn einleiten: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. Das ist die auf die kürzest mögliche Formel gebrachte Kernthese dieses Buches.“

Im Klappentext des Buches greift der Suhrkamp-Verlag die Kernthese auf und formuliert, dass Hartmut Rosas „Resonanz“ als Gründungsdokument einer Soziologie des guten Lebens gelesen werden könne: „An seinem Anfang steht die Behauptung, dass sich die Qualität eines menschlichen Lebens nicht in der Währung von Ressourcen, Optionen und Glücksmomenten angeben lässt. Stattdessen müssen wir unseren Blick auf die Beziehung zur Welt richten, die dieses Leben prägt und die dann, wenn sie intakt ist, Ausdruck stabiler Resonanzverhältnisse ist.“

Wobei für Hartmut Rosa Entfremdung und Resonanz ein gegensätzliches Paar bilden. „Resonanz“, lesen wir, „bleibt das Versprechen der Moderne, Entfremdung aber ist ihre Realität.“ Für einen optimistischen Nachhall sorgt dabei Rosas Schlusswort: „Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten.“

Das Hören und Antworten - das sind für Hartmut Rosa Schlüsselbegriffe, auf die der Soziologe sowohl in seinem packenden Vortrag als auch bei der Beantwortung der zahlreichen Fragen aus dem Auditorium immer wieder zurückkommt. Scharfsinn verbündet sich mit Leidenschaft und Humor. Was ist gut, was schlecht, und wer entscheidet das? Ist unsere Resonanzfähigkeit gefährdet? Kann man Resonanz messen? Mit einem Augenleuchten-Index vielleicht? Sind Frauen besser disponiert für Resonanz? Resonanz wider die Steigerungslogik des Kapitalismus?

Horizontal, diagonal, vertikal: Wir Menschen, sagt Rosa, sind von Natur aus Resonanzwesen, die sich berühren lassen, durch Resonanzerfahrung verwandeln können und also lebendig bleiben. Wichtig sei es, die eigenen Resonanzachsen zu finden und zu pflegen.

Der Berichterstatter erinnert sich beim Zuhören an ein früheres Radio-Gespräch mit Rosa im Deutschlandfunk, das man nachlesen und nachhören kann: „Resonanz ist nicht nur eine Sehnsucht von Menschen überhaupt, sondern es ist auch ein Grundmodus des In-der-Welt-Seins, das heißt, wir alle machen solche Erfahrungen schon als Kinder. Kinder sind ganz stark Resonanzwesen, sie leben von diesem Begegnen, von dieser auch lebendigen Begegnung mit anderen Menschen, und deshalb haben wir immer einen Sinn dafür. Wir wissen noch, was es heißt, sich von einer Landschaft oder von einer Musik oder von einem Gedicht oder auch von unserer Arbeit insbesondere so berühren und bewegen zu lassen, dass wir da hineintreten können. Aber Resonanz hat immer einen Moment der Unverfügbarkeit, man kann es nicht garantiert herstellen. Gerade dann, wenn wir uns vornehmen, heute will ich unbedingt in diesem Modus sein, dann misslingt es uns häufig. Weihnachtsabende sind dafür ein klassisches Beispiel.“

Das Erfurter Publikum muss man nicht fragen, was es von Hartmut Rosas Denkerwelt hält. Der Begrüßungsbeifall ist beredt lang und herzlich, der beim Abgang erst recht. Auch die professionellen Buchbesprechungen durch Journalisten wie Kollegen sind überwiegend sehr positiv ausgefallen. Darin heißte es etwa „ein Gegenprogramm zum gehetzten Leben“ oder „ein großer Wurf“, „nicht weniger als eine umfassende Theorie allen menschlichen Leben“ und schließlich: „Wer an einer kritischen Diagnose der Gegenwart interessiert ist, wird an Rosas Buch nicht vorbeikommen.“

Selbst im Verriss, den es natürlich auch gibt, findet Erwähnung, dass es sich bei Rosa um einen „der begabtesten deutschen Soziologen seiner Generation“ handele. Das kürzeste und sympathischste Urteil findet sich in der "Zeit". Es lautet: „Lesen!“

Wie jeder Herbstlese-Autor erhält Hartmut Rosa zum Abschied köstliche Erfurter Brückentrüffel. Wohlwollend betrachtet der kluge Professor die geschmackvolle Versuchung, zeigt auf die Schachtel und sagt: „Da verläuft eine meiner Resonanzachsen.“

Hartmut Rosa im Kultur: Haus Dacheröden

Fotos: Holger John

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