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Juni 18 2017

Premiere von „Mein Lieblingsbuch“ mit Erfurts Generalintendanten Guy Montavon fällt sehr persönlich aus

Paukenschlag bei der Pianistin

Der sonst so lebensfrohe Guy Montavon sorgte im Kultur: Haus Dacheröden für eine Gänsehaut-Atmosphäre.
Der sonst so lebensfrohe Guy Montavon sorgte im Kultur: Haus Dacheröden für eine Gänsehaut-Atmosphäre.

Mit Premieren ist das so eine Sache. Man weiß nie, wie das Publikum reagiert. Im Fall der ersten Ausgabe von „Mein Lieblingsbuch“ war auch gar nicht sicher, ob überhaupt ein Literaturfreund am Sonntagmorgen den Weg in das Kultur: Haus Dacheröden finden würde. Zum Glück hatte ein Mann dafür zugesagt, der auf eine stabile Fangemeinde in Erfurt bauen kann: Guy Montavon, der Generalintendant des Theaters der Thüringer Landeshauptstadt.

Drei Lieblingsbücher, so das Angebot von Herbstlese-Vereinschef Dirk Löhr vorab, dürfe der Schweizer zur Plauderei über Gott und die Welt mitbringen. Der beschied sich indes mit nur zwei literarischen Mitbringseln. Zum einen „Asterix auf Korsika“ des französischen Comic-Duos René Goscinny und Albert Uderzo und zum anderen Moritz von Bredows „Rebellische Pianistin“.

Während die Abenteuer der Gallier auf der Insel im Mittelmeer durchaus zu den Comic-Klassikern zählen, dürfte den meisten Besuchern in der Kleinen Galerie des Dacheröden die Biografie der Grete Sultan unbekannt gewesen sein. Und doch, so Montavon schon zu Beginn des Vormittags, hätten beide miteinander zu tun . . .

Der leicht kryptischen Ankündigung folgte ein reger Austausch über „Asterix auf Korsika“. Während Dirk Löhr davon sprach, wie er mit Hilfe des Bilderbuches zu seinen ersten lateinischen Vokaleben und Phrasen kam („Alea iacta est! – Seite 5) erinnerte sich Guy Montavon an die Strenge seiner Frau Mutter. Die hatte die einzelnen Hefte zu dicken Büchern binden lassen, in die sie nur zu besonderen Anlässen Einblick gewährte. Einige waren sich die beiden Herren in ihrer Würdigung der anspielungsreichen Texte. So verwies der eine auf „Alles rennet, rettet, flüchtet . . .“ aus Schillers Glocke (Seite 32), der andere klärte derweil darüber auf, dass die Worte „dieser hauchzarte Duft nach Thymian und Mandeln, Feigen und Kastanien . . .“ (Seite 20) ursprünglich aus der Feder Napoleon Bonapartes stammten.

Überhaupt, meinte der Intendant, lasse sich das korsische Abenteuer der zaubertrunkenen Gallier nur auf Französisch lesen, wolle am alle Hinweise auf gewesene und noch lebenden Stars und Sternchen auch verstehen. „Asterix auf Korsika“ – ein würdiges Lieblingsbuch, waren sich beide einig.

Doch wie würde die Biografie abschneiden? Er habe über das Leben der Grete Sultan mit großem Interesse gelesen, räumte Dirk Löhr ein. Ihr Schicksal stehe exemplarisch für das der deutschen Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; gerade noch unermesslich reich, mit eigener Villa im Grunewald und einem Liebermann-Porträt des Vaters an der Wand, mir Richard Strauss als alldonnerstäglichem Skat-Gast und einer ganzen Mannschaft an Bediensteten, wurde der Familie nach dem Machtantritt der Nazis 1933 nach und nach alles genommen: Die Villa, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die Sicherheit. Auch Strauss kam nicht mehr zum Skat.

Für Grete Sultan, dem fünften und jüngsten Kind der Familie, bedeutet das alles einen Bruch ihrer verheißungsvollen Karriere. 1941 kann sie als eine der letzten Juden Deutschland verlassen. In den USA wird sie als Klavierpädagogin und – das wohl vor allem – als Muse des Komponisten John Cage verehrt. Das alles macht ihre Biografie durchaus lesenswert, aber auch zum „Lieblingsbuch“?

Die Antwort auf diese Frage verschlägt dann dem Publikum für einen Moment den Atem. Doch der Reihe nach.

Vor zwei Jahren etwa rief ich Max von Bredow an, ein Hamburger Kinderarzt und der Autor der „Rebellischen Pianistin“. Er wolle ihm etwas von seiner Mutter erzählen, kündigte er an. Was, ist auf Seite 143 des Buches zu lesen:

„Zu dieser Zeit, im Herbst 1937, kommt Gretes Schwester Käte Victorius zusammen mit ihren man Ernst Wolf aus Basel zu Besuch nach Berlin. Käte kann keine eigenen Kinder bekommen, und so haben sie sich für eine Adoption entschieden. Im jüdischen Waisenhaus schließen sie schon bald ein wenige Monate altes Mädchen in ihr Herz, das dem Heim kurz nach der Geburt übergeben worden ist und durch die Adoption vor der Verfolgung gerettet werden kann.“

Sie nehmen das Kind mit in die Schweiz. Ernst und Käte werden so zu Guy Montavons Großeltern. Denn das kleine Mädchen ist – seine Mutter.

Es wurde sehr still in der kleinen Galerie. Das Publikum musste diese Neuigkeit erst einmal verdauen. Wie auch der Intendant vor zwei Jahren beim Anruf aus Hamburg schlucken musste.

So richtig kommt das Gespräch dann nicht mehr in Schwung. Mit den Gedanken sind alle ein bisschen entrückt. So dauert der Vormittag dann auch nicht mehr all zu lang.

Die zwei „Lieblingsbücher“ begründen indes eine neue Tradition. Es sind die ersten Exemplare der neuen Bibliothek, die mit den Besuchen weiterer Gäste und ihrer literarischen Favoriten wachsen soll. Ein erstes entsprechendes Möbel werde demnächst bestellt, kündigte Dirk Löhr zum Abschluss an. Zudem nannte er den Namen seines nächsten Gesprächspartners.: Es ist der Thüringer Schriftsteller Landolf Scherzer. 

„Mein Lieblingsbuch“ mit Guy Montavon

Auftakt zur neuen Veranstaltungsreihe in der Kleinen Galerie im Kultur: Haus Dacheröden

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