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Erfurter Herbstlese
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Nov. 25 2014

„Wir Angepassten“ im Collegium Maius

Mensch Roland!

Roland Jahn hat ein sehr persönliches Buch geschrieben. Im ausverkauften Collegium Maius fand es eine sehr konzentrierte Aufnahme durch das Erfurter Publikum.
Roland Jahn hat ein sehr persönliches Buch geschrieben. Im ausverkauften Collegium Maius fand es eine sehr konzentrierte Aufnahme durch das Erfurter Publikum.

Joachim Gauck war schon da und Marianne Birthler auch. Die früheren Chefs der Stasi-Unterlagenbehörde stellten in Erfurt bereits ihre Erinnerungen vor. Roland Jahn hat jetzt mit seinen Vorgängern gleichgezogen. Doch sein Buch „Wir Angepassten – Überleben in der DDR“, das er bei der Herbstlese präsentiert, sieht den früheren Bürgerrechtler und Journalisten noch im Amt.

Das dürfte das Schreiben des Buches nicht erleichtert haben, und macht den Umgang ein wenig schwierig. Der Autor muss sich vom Behördenleiter absetzen, meint er den gewählten persönlich-emotionalen Ansatz seines Buches ehrlich. Die Reputation des Amtschefs indes kann dem Text die Aufmerksamkeit sichern, die sein Anliegen wohl braucht: Den Beginn einer breiten Debatte über das Leben in der Mitte der DDR. Die ist aus Sicht Roland Jahns überfällig, um alte Verletzungen aus dem Weg zu räumen, um Frieden zu stiften in den Familien, zwischen den Generationen, in einer immer noch zerrissenen Gesellschaft. Ein Diskurs, der verhindern hilft, dass neue Furcht und alte Angst wieder regieren können.

Roland Jahn hat sein Buch noch nie öffentlich vorgestellt. Erfurt ist die Premiere, seine erste Lesung. Das erklärt zum einen die hochemotionalen Momente, die das Publikum erlebt. Er hat das so gewollt. Zunächst mochte er zwar gar nicht lesen, aber sein Verlag, Piper, konnte ihn dann doch überzeugen, nicht zuletzt, weil man die Herbstlese sehr schätzt. Zur Verstärkung sitzt Henry Bernhard an seiner Seite. Der Korrespondent von Deutschlandradio Kultur führt zwischen den Textpassagen kurze Gespräche mit dem Autor. In Thüringen soll es also beginnen.

Denn hier stammt Roland Jahn her. Er ist in Jena aufgewachsen, hat bei Zeiss Fußball gespielt und an der Universität studiert. „Ich bin nicht als Staatsfeind geboren wurden“, sagt er. Bis sie ihn rausschmissen, weil er gegen die Kandidaten der Nationalen Front stimmte. Als einziger von 6000 Studenten, wie ihm dann vorgehalten wurde. So viel zum Thema Wahlgeheimnis in der DDR. 1976 war das, und weil er danach öffentlich fragte, ob die Biermann-Ausbürgerung wirklich so klug sei, war auch schnell ein Grund für die Exmatrikulation gefunden.

30 Jahre später will sich ein Kommilitone mit ihm treffen, einer, der damals seine Hand gegen ihn hob. Jetzt erzählt er, wie die Stasi der Seminargruppe die Instrumente zwar noch nicht zeigte, aber schon benannte. Wer für Jahn ist, ist gegen uns, und kann gleich mit dem Packen beginnen. Diese Begegnung wird zum äußeren Anlass für das Buch.

Doch zurück nach Jena. Roland Jahn radikalisierte sich nun immer mehr, forderte Staat und Stasi mit immer neuen Aktionen heraus. Bis 1983 die Obrigkeit zum letzten Mittel griff. Sie setzte ihn in Probstzella in den Zug, ließ das Abteil zuschließen und schob ihn so, mit Gewalt, in den Westen ab. Erich Mielke soll den Befehl dazu selbst unterzeichnet haben. Über 100 Leute von der Stasi bis zum Rat der Stadt Jena waren wohl beteiligt. Ein einmaliger Vorgang.

Roland Jahn hatte nicht vor zu gehen. Heimat und der Familie verbunden ist er bis heute. Damals wollte er einfach die Freiheit in Anspruch nehmen, selbst darüber entscheiden zu können, in welchem Teil der Welt er zu Hause sein möchte. Für ihn war das die Stadt an der Saale.

Das alles klingt nicht gerade nach der Biografie eines angepassten Mitläufers. Doch auch Roland Jahn räumt ein, lange vieles mitgemacht zuhaben. Der 1. Mai – eher ein Volksfest, der Grundwehrdienst – eine Sache, die man halt über sich ergehen lassen muss, das Studium der sozialistischen Ökonomie – warum nicht, wenn es ein friedliches Einkommen sichert.

Der Autor mag keine Schubladen. Klar, es gibt Opfer der Willkür in der DDR, es gibt auch eindeutig Täter. Das sind die beiden Pole der 40-Jährigen DDR-Geschichte. Dazwischen finden sich die normalen Leute, die versuchten, nicht anzuecken, durchzukommen. Deren Geschichten interessieren Roland Jahn, sie sollen den Mut finden, sie endlich zu erzählen. Das ist ihm so wichtig, dass er es gleich doppelt aufschreibt: In seinem Vorwort und gleich noch einmal im ersten Kapitel.

Seine Eltern wollten sich und die Kinder aus der Politik heraushalten. Der Vater verlor als 17-Jähriger in den letzten Kriegstagen ein Bein. Das war für ihn die bittere Lehre, wohin Politik führt. Immer wieder hielt er dem Sohn vor, doch nicht alles aufs Spiel zu setzen, was er sich aufgebaut hatte. Als Ingenieur bei Carl Zeiss konstruierte er an der berühmten Multispektralkamera MKF 6 mit. Ganz sicher, Walter Jahn war nicht irgendwer in Jena.

Dass er seine Eltern in Schwierigkeiten brachte, tut Roland Jahn bis heute leid. Als er sich fragt, ob er nicht vielleicht doch zu rücksichtslos, zu egoistisch war, versagt ihm fast die Stimme. Selbst als er glaubte, den Vater als Rentner sicher zu sehen, und er richtig aufdrehte, schlug das System noch einmal gnadenlos zu. Seinem Vater, der sich trotz Prothese für den Jenaer Nachwuchs-Fußball aufopferte, wurde über Nacht das Lebenswerk genommen. Er durfte bei Zeiss nicht mehr mitmachen. Ehrenmitgliedschaft? Wen interessierte das noch.

Daran hat Roland Jahn bis heute zu knabbern. Zum Glück konnte er sich mit dem Vater aussprechen, vermochten sie in den Akten erkennen, wie sehr die Stasi der Familie ins Leben pfuschte. Aber Zweifel bleiben. Nicht nur bei ihm. Er erinnert an einen Fall eines Ausreise-Antrags. Die Eltern kamen in Haft, die Kinder ins Heim. Bis heute werfen die Jungen den Älteren vor: Nur weil ihr damals in den Goldenen Westen wolltet, hat uns abends keiner zugedeckt.

Einerseits und andererseits. Als der 23jährige Freund nicht aus der Stasi-U-Haft zurückkehrt, realisiert Roland Jahn „es geht um Leben und Tod". Ab da ist für ihn die Zeit der faulen Kompromisse vorbei. Aber das System ließ auch vieles durchgegen. Es setzte auf die brutale Abschreckung, auf die Angst, es könnte einem so ergehen wie den wenigen, an denen ein Exempel statuiert wurde.

Und noch ein Beispiel führt er zum Ende des Abends an. „Beile“, der Jugendfreund, der für die Stasi spitzelte und ihn doch auch warnte. Vom Behördenleiter wird jetzt klare Kante gefordert, wie es mit dem Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes Rolf Beilschmidt weitergehen soll: Erkläre dich. Der so Bedrängte sagt immer wieder, es gibt auch für alte Freunde keine Sonderbehandlung. Das heißt aber auch, er kann nichts für ihn tun. Als Amtschef muss er sagen: Hier sind die Akten, jetzt macht euch selbst ein Bild. Als Freund möchte er reden. Sich zusammensetzen, auch öffentlich, und streiten: Beile, war es das wert?

So schnell wird es zu einem öffentlichen Gespräch nicht kommen. Dafür sind die Schubladen noch viel zu mächtig, die Reflexe gut trainiert. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer scheint es noch immer zu früh zu sein für die Fragen: Wie konnte die DDR 40 Jahre alt werden, warum haben so lange so viele mitgemacht? Warum dieser ewige Eiertanz?

Roland Jahn mahnt, das Erinnern nicht zu vergessen. Jeder Mensch hat zwar das individuelle Recht, die weniger schönen Dinge zu verdrängen, sie einfach zu vergessen. Die Gesellschaft, alle zusammen, die dürfen das nicht.

Es braucht sicher mehr, als nur ein wohlgemeintes und wirklich lesenswertes Buch, um diese Diskussion in Gang zu bringen. Zumal Roland Jahn immer wieder einräumt, „es gibt kein Maß für Angepasstheit“. In Erfurt kam – zumindest während der Lesung – noch kein Gespräch mit dem Publikum zustande. Das muss aber nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen sein. Es deutet auch auf die Intensität dieses emotionalen Abends hin.

Der dann doch noch ein lockeres Ende nimmt. Programmchefin Monika Rettig verweist auf Joachim Gauck, der nach seinem Auftritt bei der Herbstlese doch noch der erste Mann im Staat wurde. Das sei ja nun, irgendwie, auch Roland Jahn vorbestimmt. Und sie nahm ihm das Versprechen ab, als Bundespräsident wiederzukommen. Spätestens.

Der herzliche Applaus des Publikums lässt eher glauben, dass es schneller zu einem Wiedersehen kommt.

Roland Jahn im Kollegium Maius

Fotos: Holger John

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