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Jan. 26 2021

Vanessas Blog: Die Erfurter Herbstlese und ich (Teil 4, Dezember 2020)

Hurra, es ist eine Randspalte

Vanessa Kaupe absolviert ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der Erfurter Herbstlese. Hier schreibt sie über ihre Erlebnisse.
Vanessa Kaupe absolviert ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der Erfurter Herbstlese. Hier schreibt sie über ihre Erlebnisse.

Von Vanessa Kaupe

Der digitale Adventskalender der Erfurter Herbstlese erblickte am 01. Dezember 2020 das Licht der Welt. Hinter jedem Türchen verbarg sich eine Lese-, Spiel- oder Serienempfehlung eines Mitarbeiters, Buchhändlers oder einer kulturbegeisterten Privatperson.

Und, noch viel wichtiger: Ab und an gab es eine digitale Lesung zu bestaunen. Nach den vielen entfallenen Veranstaltungen erklärten sich einige der Autoren nämlich dazu bereit, ihre Lesung in den digitalen Raum zu verlegen und füllten damit einige der Adventskalendertürchen – sehr zur Freude der Gäste, die somit doch noch die Möglichkeit bekamen, der Lesung beizuwohnen.

Damit kamen einige neue Videoprojekte auf mich zu, die geschnitten werden mussten. Aber auch das Kontaktieren der Gäste stand auf meiner Agenda. Außerdem nutzte ich zum ersten Mal das wundervolle Programm Perpustakaan (indisch für ‚Bibliothek‘), das zur Erfassung sämtlicher Bücher vergangener Veranstaltungen dient. Besonders freute ich mich, dass ich dadurch endlich wieder das Buch von Joachim Gauck in den Händen halten konnte. Als ich es berührte, tauchten blitzartig Unmengen an Bildern vor meinem inneren Auge auf: Stornierte Tickets, Kontaktdaten, so viele Kontaktdaten, und die Liste, oh Gott, diese Liste. Ich glaube, ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt.

Nachdem nun auch im Dezember sämtliche Veranstaltungen abgesagt werden mussten, war tatsächlich nicht allzu viel los. Deshalb unternehme ich im Folgenden den Versuch, ein erwähnenswertes Ereignis unangenehm dramatisch zu beschreiben, um den Bericht zu füllen:

An einem wolkenbehangenen, grauen Dezembertage wurde mir ein Auftrag zuteil, dessen Erfüllung im ganzen Büro gefürchtet wurde. Angstverzerrte Gesichter, abwesende Blicke und der unabdingbare Wunsch, übersehen zu werden, prägten das Verhalten des hier anwesenden Teils der Spezies Mensch. Neulinge wurden aus Prinzip nicht eingeweiht, viel zu gefährlich und unerreichbar schien die Kunde, die sich bedrohlich über die Arbeiterschaft legte. Doch ein Mensch löste sich aus jener verhängnisvollen Stimmung. Ein Mensch trat hinaus aus dem Schatten der Schweigsamkeit, trat hervor und sprach jene Worte, die mein 2020 so entscheidend beeinflussen sollten: „Der Tag ist gekommen, du wurdest für würdig befunden. Nimm dieses beschriebene Blatt Papier als Zeichen unserer Wertschätzung und erledige, was zu erledigen ist!“. Ehrfurchtsvoll und mit zitternder Hand ergriff ich das so hoch angepriesene Blatt, um es vor mir auf den makellos sauberen und ordentlichen Schreibtisch zu legen. Der Mensch entschwand in einer Ansammlung aus Nebelschwaden, während meine unwürdigen Augen zum ersten Mal wagten, einen Blick auf den Auftrag zu werfen.

Dort lag er also, schwarz auf weiß, Gedanken in Form von Buchstaben, dramatisch aneinandergereiht. Der Versuch, sich mittels schwarzer Farbe festzusetzen, mittels von Zeichen zu überdauern, zu bleiben, ein inneres Grundbedürfnis des Menschen. Doch welches Zeichen, welche Form ist imstande, das zu leisten, was der Mensch selbst nicht zu leisten vermag?

Das ganze Büro schien angesichts des Auftrages hell zu erstrahlen, ich fühlte mich erleuchtet und gleichzeitig durchleuchtet von seiner Stärke und Intensität. Ein Text, der in seiner lyrischen Präzision und Exaktheit durch alle Glieder fuhr, dessen Worte berührten, dessen Schachtelsätze sich jedem Normalsterblichen entzogen – unschwer zu erkennen: Das war die Vorlage für meine erste Pressemitteilung.

Ich schrieb, wie ich noch nie geschrieben hatte, völlig im Rausch der Worte versunken, diese Nüchternheit, Klarheit, die erwünschte Präzision, nichts schien mir leichter zu fallen als das, hier war ich, ich war und ich schrieb. Ich formulierte um, versunken im Reich der Worte, suchend nach den richtigen Ausdrücken, ich dichtete, ohne zu dichten, ich vollbrachte Magie. Und schließlich war es da, das Ergebnis, eine Seite lang, meine erste Pressemitteilung. Der Plebs auf den Straßen jubelte mir voller Anerkennung zu und ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, genoss die mir zurecht zugeteilte Aufmerksamkeit.

Zwei Tage später entdeckte ich die gekürzte Fassung meines Textes am Rande einer Zeitung und war mir sicher: Genau das erreichte die Menschenmassen, bewegte sie. Meine Worte. Voll Freude und doch auch mit einer gewissen Dramatik blickte ich nach oben, um den Erfolg für die Filmkameras, die mich seit jenen Ereignissen verfolgten, gebührend festzuhalten. Mein Leben teilt sich von nun an in zwei Teile: Das Leben vor der Pressemitteilung, und das Leben danach.

Nichts wird je wieder so sein, wie zuvor. Ich bin nun eine andere Person, erfüllt von Ruhm, Reichtum und Anerkennung. Zumindest im Geiste.


Alle Folgen von Vanessas Blog lassen sich einfach per Klick aufrufen:

Teil 1, September 2020 „Wie ich gleich zur Legende wurde“

Teil 2, Oktober 2020 „Kein Wort über Campino“

Teil 3, November 2020 „Absage-Frust und Video-Lust“

Teil 4, Dezember 2020 „Hurra, es ist eine Randspalte“

Teil 5, Januar 2021 „Eye in the Skype”

Teil 6, Februar 2021 „Applaus, Applaus“

Die Fotos zu Vanessas Blog

Die Erlebnisse einer FSJ-lerin bei der Herbstlese

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