Marion Brasch präsentiert mit Jan Damitz einen Abend für ihren großen Bruder Thomas
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“
Von Sigurd Schwager
Als Marion Brasch im Frühjahr ihr neues, geistvoll-sprachschönes Buch „Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot“ vorstellte, war dies ihre dritte Lesung in Erfurt. Und weil bekanntlich aller guten Dinge drei sind, blickte sie damals bei Hugendubel vergnügt in die Runde und sprach: „Ich habe jetzt das Recht, mich einzuklagen, damit ich jedes Jahr zweimal hier sein darf. Zur Frühlingslese und zur Herbstlese.“
So solle es sein, unbedingt, notierte der Berichterstatter den Wunsch des Publikums, der auch seiner war - und siehe da: So ist es! Nach der Frühlingslese 2016 beehrt Marion Brasch auch die Herbstlese 2016. Im ausverkauften Studio des Erfurter Theaters gestaltet die Journalistin und Autorin mit dem Schauspieler Jan Damitz für ihren großen Bruder, den Dichter Thomas Brasch, einen Abend des Erinnerns.
Sein Titel „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ ist die Schlusszeile eines Gedichts, das Thomas Brasch 1976 zu Zeiten seiner Ausreise aus der DDR schrieb.
„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Marion Brasch nennt es in der Thüringer Allgemeinen in einem Gespräch mit Christina Onnasch das Verlorensein zwischen zwei Welten. Ein permanentes Gefühl von Verlorenheit, vermutet die kleine Schwester, sei vielleicht das, was ihren Brüdern gemeinsam war: Klaus, dem Schauspieler, der nur 30 wurde und sich 1980 vom Tod holen ließ; Peter, dem Schriftsteller, der im Juni 2001 mit 45 starb; und Thomas, dem Dichter, Dramatiker, Übersetzer und Filmemacher, der im November 2001 im Alter von 56 Jahren folgte. Alle drei sind sich am Ende abhandengekommen.
Die Hommage an den bekanntesten ihrer Brüder zu dessen 70. Geburtstag, die Marion Brasch jetzt in Erfurt präsentiert, ist der Schwester, das merkt man, Herzensangelegenheit. Sie sieht sich dabei nicht als Gralshüterin. „Aber es wäre schade, wenn Thomas vergessen würde, deshalb mache ich dieses Programm. Er hat so tolle Texte geschrieben – Texte, die nichts von ihrer Brisanz eingebüßt haben, im Gegenteil.“
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Thomas Brasch dominiert die Bühne im Studiotheater. Auf der großen Leinwand ein schwarzweißes Bild: der Künstler als junger Mann mit dunklem Haar und Bart und einer kalten filterlosen Zigarette zwischen den Lippen. Rechts und links von ihm sitzen an ihren Lesetischen Marion Brasch und der Schauspieler Jan Damitz. Dieser eröffnet den Abend mit des Dichters Vorspiel II:
„Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.
Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.
Ich komm aus England. Daher kommt der Tod ...“
Marion Brasch setzt ein, erzählt vom Kindergeburtstag und dem Versprechen des Bruders, sie zu heiraten, wenn sie groß sei. In der folgenden Stunde fügen sich Worte von und über Thomas Brasch, Texte und bewegte Bilder zum ergreifenden Porträt eines Zerrissenen, dessen Leben, so formuliert es Claus Peymann, ein wüster Roman war. In dessen wichtigste Kapitel wird das Erfurter Publikum hineingezogen: Der Prager Frühling, Panzer und Protest, Flugblätter an Trabbi-Scheiben, Verhaftung, Gefängnis, nach zweieinhalb Monaten auf Bewährung als Fräser in die Produktion entlassen. Im Gefolge verliert der Vater sein Amt als stellvertretender Kulturminister und wird in die Provinz versetzt.
Dann das Köln-Konzert von Wolf Biermann und seine Ausbürgerung aus der DDR. Thomas Brasch unterzeichnet den Brief wider die Willkür. Ende 1976 macht er, der das Land liebt und seine Verhältnisse hasst, den nicht gewollten Schritt. Mit Freundin Katharina Thalbach übersiedelt er nach Westberlin. Sein Buch „Vor den Vätern sterben die Söhne“ erscheint.
Zwei spätere Szenen, die im Gedächtnis bleiben: Zum einen sieht man Thomas Brasch im Gespräch mit Günter Grass. Er möchte, erzählt er ihm, nicht vereinnahmt werden, nicht der Vorzeige-Dissident sein. Er beharrt darauf, dass man ihn nicht gut finden möge, weil er aus dem Osten komme, sondern weil er ein guter Dichter sei.
Zum anderen steht er in München auf der Bühne, um für seinen Spielfilm-Erstling „Engel aus Eisen“ den Bayerischen Filmpreis 1981 in Empfang zu nehmen. Brasch spricht über den Widerspruch des Künstlers im Zeitalter des Geldes und dankt der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung. Während der Saal rumort, bewahrt Franz Josef Strauß die Contenance, doch tags darauf lässt der Freistaat den Preisträger wissen, dass er die Hotelrechnung gefälligst selbst bezahlen müsse. Bewegend der nie abgeschickte Brief an den Vater und die Filmbilder von der Totenfeier im Sommer 1989. Vater und Sohn haben es nicht geschafft, zueinander finden.
Schließlich die Zeit nach der Wende. Berühmt ist er, berühmt bleibt er, aber Ruhm wärmt nicht. Er sitzt in seinem Wörtergefängnis, schreibt Gedichte, übersetzt Shakespeare. Die Gesundheit ist längst ruiniert.
Das letzte Wort gehört Thomas Brasch. Wir sehen ihn noch einmal auf der Leinwand und hören wie er sein Gedicht vorträgt, endend mit der Zeile:
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
Langer, herzlicher Applaus für Marion Brasch und Jan Damitz. Der kleinen Schwester des großen Thomas Brasch verdankt der Jubiläumsjahrgang der Erfurter Herbstlese einen der berührendsten Abende. Wer ihn erlebt hat, wird (wieder) nach dem Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ greifen, in dem Marion Brasch von ihrer Familie erzählt.
Marion Brasch und Jan Damitz auf der Studiobühne des Theaters Erfurt
Fotos: Holger John