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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 20 2013

Wie im Märchen

Eva Corino im Gespräch mit Meike Winnemuth in der Aula des Ratsgymnasiums. Foto: Holger John
Eva Corino im Gespräch mit Meike Winnemuth in der Aula des Ratsgymnasiums. Foto: Holger John

Es gibt ein altes Märchen: Ein alter Mann verrät auf dem Sterbebett seinen drei Söhnen ein Geheimnis; im Obstgarten ist ein Schatz versteckt. Nach seinem Tod beginnen die Söhne zu suchen. Wieder und wieder graben sie im Garten. Doch sie finden nichts. Schon sind sie entmutigt, sogar zornig auf ihren Vater, sie wittern Betrug und Verrat. Über das Graben vergeht das Jahr, die Obstbäume tragen übervoll an ihren Früchten. Das hat den dreien Söhnen die Graberei gemacht. Der luftige Boden bringt reiche Ernte. Es ist der Schatz, den ihnen der Vater versprach.

In einer neuen Version geht das Märchen so: Ein Frau, die etwas mehr Jahre hinter sich hat, als wohl noch vor ihr liegen, bewirbt sich bei einer Fernsehshow. Wieder und wieder versucht sie es, dann schafft sie es endlich. Sie sitzt bei Günther Jauch und versucht, Millionärin zu werden. Das gelingt (wir rechnen einfach in der sagenhaft festen D-Mark), weil ein Zuschauer ihr bei der 500 000-Euro-Frage den entscheidenden Hinweis gibt. Sie vertraut ihm und ist plötzlich reich. Sie lässt alles stehen und liegen und sucht in zwölf Städten ihr Glück. Sie fliegt, fährt und schwimmt (auf einem Frachter) um die Welt. Wieder zu Hause merkt sie, das Glück trägt sie längst in sich; die Million hat sie gar nicht gebraucht.

Meike Winnemuth ist das passiert. Besser wäre indes zu sagen, sie hat es passieren lassen. Sie ist bei der Herbstlese zu Gast. Wegen der großen Nachfrage ist man umgezogen. Die wenigen Schritte von Hugendubel hinüber zum Ratsgymnasium – Erfurt ist wirklich nicht sonderlich groß, aber dazu später mehr – haben sich gelohnt. Doppelt so viele Besucher haben nun Platz.

Es kommen fast so viele Menschen, wie zur Lesung in ihrer Heimatstadt Hamburg. Dort stand ihr als Gesprächspartnerin Amelie Fried zur Seite. Die meisten Leute sind wohl wegen Amelie gekommen, steht selbstironisch auf ihrer Website. Auch so ein Zufall, die zwei hatten sich in Shanghai getroffen.

In Erfurt ist Eva Corino für einen Abend die Partnerin der Weltreisenden. Die Publizistin stellt kenntnisreich ihre Fragen, hakt  nach, erkundigt sich nach den kleinen wie den großen Dingen. Wie Meike Winnemuth in die Show kam („lange probiert, online klappte es sofort“), nach der Geschwindigkeit der verschiedenen Städte („Shanghai ist rasend schnell, Buenes Aires eher eine Schlenderstadt“) und wo es nicht so schön war („aus Mumbai wollte ich jeden Tag weg, überall die bittere Armut – gegen dieses Bilder kann man sich keine Hornhaut wachsen lassen“).

Die Armut der anderen, das eigene Glück, die Chance, dankbar sein zu dürfen. Meike Winnemuth hat so viel erlebt, da drängt sich eine Frage geradezu auf: „Woran glauben Sie?“ Die Antwort: „An die Menschen, an die Begegnungen mit ihnen. Ich glaube an Menschenfreundlichkeit, an den Versuch zu verstehen.“ Am Ende läuft es dann doch auf die urchristlichen Werte hinaus: „Liebe deinen Nächsten“. So einfach ist das. „Ohne Gott?“, fragt Frau Corino? „Ach wissen Sie, viele kriegen das auch mit Gott nicht hin . . .“

Gott würfelt nicht. So oder so ähnlich wird der Satz Albert Einstein zugeschrieben. Er dürfte zu den am meisten missverstandenen Zitaten der Welt zählen und Meike Winnemuth − in ihrer ganz eigenen Rastlosigkeit − gefallen. In ihrem Buch „Das große Los“ ist über die erste Zeit nach der Rückkehr zu lesen: „Ansonsten tue ich das, was unterwegs so befriedigend war: Ich lasse systematisch Neues in mein Leben.“ Und ein Stück weiter: „In einem Seminar lerne ich, wie man die Erkenntnisse der Quantenmechanik auf das Denken anwenden kann.“

Doch es geht auch eine Spur profaner. Vier Dinge hatte sie sich für die Zeit nach der Weltreise vorgenommen. Nur der Garten fehlt noch; hinter kleinerer Wohnung, überschaubarer Garderobe und einem Hund ist schon der Erledigt-Haken. Dass Fiete, ihr Hund, ein Foxterrier ist, sagt eigentlich alles.

Eines ist Meike Winnemuth wichtig, sie wiederholt es auch in Erfurt. Es ist ihr Mantra geworden. „Ich mache, was ich will – und nicht, was ich wollen soll!“ Dieses Prinzip empfiehlt die 53-Jährige energisch zur Nachahmung.

Und was will sie? Nach ihrem Trip um die Welt, nach je einem Monat in einer Weltstadt, steht ihr eine neue Reise, eine ganz andere Welt bevor; das Jahr 2014 gehört Deutschland. Meike Winnemuth will nach ihrem Muster wieder für einen Monat in eine Wohnung ziehen, deren Eigentümer gerade nicht da sind. Sie will das in deutschen Städten tun, die eher klein sind, in Worms und Konstanz zum Beispiel, in Görlitz und Stralsund, im 800-jährigen Bielefeld und – na klar, in Erfurt. Zum Glück ist Erfurt eben nicht so groß, wie es den Einheimischen manches Mal deucht.

Kann sein, dass sie sogar in Thüringen beginnt. Bis zu den Skigebieten ist es nicht weit, Langlauf würde sie gerne noch lernen. Wer also eine Wohnung hat, kann sich ja am Büchertisch melden; leichtes Raunen im Saal. Später sagt sie, es gibt erste Angebote. Auch für einen Skikurs.

So können sich die Erfurter auf einen Monat mit einer ungewöhnlichen Frau und ihrem quirligen Hund Fiete freuen. Meike Winnemuth ist seit Jahren Single. Erst ungewollt, dann immer mehr aus Überzeugung. Vielleicht überfällt sie in Erfurt die Liebe. Das wäre dann wieder: Wie im Märchen.

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