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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 25 2013

Lesen Sie dieses Buch!

Jennifer Teege hinterließ bei den Zuhörern einen ungeheuren Eindruck; was für ein Schicksal, was für eine starke Frau. Foto: VIADATA
Jennifer Teege hinterließ bei den Zuhörern einen ungeheuren Eindruck; was für ein Schicksal, was für eine starke Frau. Foto: VIADATA

Plenum der Patienten einer Klinik im Süddeutschen. In einem Kreis sitzen Menschen mit psychischen Störungen. Bei ihnen wurden Depressionen diagnostiziert oder Schlimmeres, manche sind suchtkrank oder waren es, sie sind nach Unfällen oder familiären Schicksalsschlägen traumatisiert, einige schlicht vom Alltag überfordert. Nach einem Moment der Stille, bevor es um Stundenpläne, Therapieangebote und die Ausweisung der genauen Zutaten im Klinikessen geht, sagt die Oberärztin einen Satz, den sie regelmäßig bemüht: „Vergessen wir nicht“, spricht sie in die Runde, „dass wir für unser Handeln letztlich selbst verantwortlich sind.“ Ein Patient meldet sich: „Und wie ist das mit unseren Gefühlen?“, möchte er wissen. „Was meinen Sie?“, fragt die Ärztin zurück.

So viele Fragen, auf die wir kaum eine Antwort wissen. Fragen, die oft schon seit der Kindheit einer Antwort harren. Wo komme ich her, was macht, was ich bin? Alles nur Schicksal oder lebe ich mein eigenes Leben? Meistens lenkt das Tagwerk von diesen Fragen ab. Erst in Krisenzeiten tauchen sie wieder auf. Wenn ein Schatten auf die Seele fällt, wo immer diese auch gefunden werden mag.

Jennifer Teege kennt diesen Schatten. Sie wird wegen Depressionen behandelt. Deren Ursachen liegen für viele Experten oft in der Frühphase des Lebens. Was, wenn man diese Zeit gar nicht kennt? Was, wenn man Ende der 70er Jahre adoptiert wurde, das aber kein Thema sein darf? Das angenommene Kind soll sich so wohl fühlen wie die zwei eigenen, Jennifers Brüder. Dass sie ganz anders aussieht, mit ihrer dunklen Haut und so großgewachsen wie sie ist, muss ausgehalten werden. Von allen.

Es sollte heute Allgemeingut sein, das so etwas nicht gutgehen kann. Auch bei Jennifer nicht. Das dumpfe Gefühl vieler adoptierter Kinder, nicht dazuzugehören, anders zu sein, hat sie nicht ruhen lassen. Sie braucht therapeutische Hilfe. Inzwischen selbst Mitte dreißig sucht sie nach Literatur, die ihr weiterhelfen kann. Vor fünf Jahren findet sie – unter 300 000 Bänden in einer öffentlichen Bücherei – das eine Buch, das ihre Familiengeschichte erhellt. Sie ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. Und sie ist die Enkeltochter eines der schlimmsten Nazis, von dem  – es lässt sich nicht anders sagen – eine breite Öffentlichkeit weiß. Jennifer Teege ist die Enkeltochter von Amon Göth.

Dieser Name, bleischwer, gehört zur Kategorie Eichmann, Himmler und Hitler. Ein berüchtigter Name, bekannt durch „Schindlers Liste“; der Film lässt ihn heraustreten aus der gesichtslosen Bande von KZ-Vorstehern. Es ist der Name des Mannes, der wahllos Menschen in dem Lager, dem er vorstand, erschießt; kein Schreibtischtäter, sondern einer, der Spaß am Morden hat. Ein Kriegsverbrecher, ein Schlächter, der von den Überlebenden gehenkt wird.

Doch all dies kann Jennifer Teege nur nach und nach bewusst werden. Sie stürzt in ein tiefes, dunkles Loch. Und immer wieder diese Fragen. In ihrem Buch „Amon Mein Großvater hätte mich erschossen“ schreibt sie Jahre später: „Mein Großvater war ein Psychopath, ein Sadist. Er verkörpert all das, was ich ablehne.“ Nur wenige Zeilen später: „Was hat er mir vererbt?“ und „Werde ich auch verrückt? Bin ich schon verrückt?“

Ihr Buch ist gleichsam die Suche nach Antworten. Sie hat es nicht allein geschrieben. Eine Journalistin, Nikola Sellmair, steuert erklärende, kommentierende Passsagen bei. Beide Handschriften zusammen machen den Text erträglich. Leicht fällt das Lesen dennoch nicht. Auch nicht das Zuhören.

Fünf Jahre ist es her, seit Jennifer Teege ihre monströse Entdeckung machte. Sie zeigt sich inzwischen als freundliche, starke Frau. Ihr Buch hat ohne Zweifel einen ungeheuren therapeutischen Effekt. Aber ist jetzt alles gut?

Es ist ihr zu wünschen. Als eine Zuhörerin sich nach dem Alter ihrer beiden Söhne erkundigt, fällt Jennifer Teege die Antwort sichtlich schwer. Sie sagt das eigentlich nicht, aber hier sind ja keine Journalisten; dann nennt sie die zwei Zahlen . . .

Am Ende der Lesung würdigt Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig das Buch und den Abend als Ereignisse, von denen noch lange geredet und an die erinnert werden wird. Es ist eines der Bücher, die versuchen, Antworten zu finden, auf die Fragen, die jeder denkende Mensch sich stellt. Und ist es nicht genau diese Suche, die ein Leben ausmacht, es zum Leben macht?

Es bleibt von diesem Abend wirklich nur ein Schluss: Lesen Sie dieses Buch!

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