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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 30 2014

Gregor Gysi präsentiert Luc Jochimsen

Die andere Seite des Mondes

Luc Jochimsen und Gregor Gysi kurz vor Beginn der Lesung im ausverkauften Atrium der Stadtwerke.
Luc Jochimsen und Gregor Gysi kurz vor Beginn der Lesung im ausverkauften Atrium der Stadtwerke.

 „Die Verteidigung der Träume“ – das ist, keine Frage, ein schöner Titel für den Rückblick auf ein Leben. Als Autobiographie bekommt er eine Spur Trotz: Seht, ich bin mir treu geblieben. Obwohl ich es inzwischen doch manchmal besser wissen müsste, höre ich nicht auf zu träumen.

Luc Jochimsen hat dieses Buch geschrieben. Sie sitzt in einem Konferenzzimmer im Erdgeschoss der Erfurter Stadtwerke und erwartet ihre Lesung. Wenige Schritte weiter füllen sich die Stuhlreihen des Atriums. An seinem Eingang bildet sich eine kleine Traube Menschen, die noch keine Karte haben.

Die Autorin weiß, dieser Andrang gilt nicht nur ihr. Sie hat Gregor Gysi zu einem Ausflug nach Erfurt überreden können. Viele im Saal sind wegen des Oppositionsführers im Deutschen Bundestag gekommen. Sicher teilen viele Menschen im Publikum auch die meisten seiner politischen Ansichten; wichtiger aber noch, sie lieben den Entertainer Gysi.

Der ist inzwischen eingetroffen. Noch ein Schluck Schorle und ein paar Fotos, dann gehen die beiden Protagonisten hinüber in den Saal. Doch während die Autorin oben auf dem Podest Platz nimmt, setzt sich ihr Gesprächspartner zunächst in den Saal. Diese Zurückhaltung setzt gleichsam den Grundton für den ganzen Abend. Es gibt keine Gysi-Show.

Das dämmert, so viel sei vorweggenommen, später auch dem einen oder anderen Gast im Publikum. Einige wenige gehen vor dem Ende wieder nach Hause. Die anderen werden Zeugen eines bemerkenswerten Lebensberichtes.

Allein die Aufzählungen der wichtigsten biografischen Daten sind beeindruckend. Luc Jochimsen schaffte es als Journalistin ganz an die Spitze, als Korrespondentin in London und als Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks. Sie saß acht Jahre für die Linke im Bundestag und kandidierte 2010 für das Bundespräsidenten-Amt. Das reicht bestimmt für eine Autobiografie. Aber würde die auch gelesen?

Luc Jochimsen hat sich diese Frage gestellt. Wann ist das individuelle Leben so wichtig, dass es allgemeines Interesse – wenn nicht schon erregt – verdient?

Die Antwort gibt ihr Buch. Es ist wichtig, gerade in diesem Teil des Landes, zu erfahren, wie es einem Mädchen des Jahrgangs 1936 am Rhein so erging; das mit seinen Eltern die Zerstörung des sicheren Heimes in einer Bombennacht erlebte und später die Besetzung der Heimat durch amerikanische Soldaten. Die sich früh für ein Jahr in den USA entschied, angezogen vom verbrieften Verfassungsrecht, seine Glück versuchen zu dürfen. Die dann ein etwas anderes Amerika erlebte, dort in Iowa, im Mittelwesten, wo, so heißt es zumindest, den Leuten die Maiskolben schon aus den Ohren wachsen. Die erschrocken war von der Prüderie und den engen Grenzen der Solidarität, die der Einzugsbereich der Kirchgemeinde absteckte. Die Karriere machte, als Frau, beim Rundfunk, und die scheiterte als Gattin. Die spät in die Politik wechselte.

Drei Passagen liest Luc Jochimsen vor. Den Rest der Zeit antwortet sie auf Gregor Gysis Fragen. Sie erzählt. Gysi hört zu. Ganz ohne Sprüche geht es indes nicht. So erzählt er, wenn ihm im Bundestag langweilig ist, frage er sich bei der einen oder anderen Rede eines CDU-Politikers schon, was er sich selbst erwidern würde. Da fielen ihm, sagt er zur Freude des Publikums, schon ein paar bessere Argumente ein. Doch diese Momente sind selten. Gregor Gysi stellt sich an diesem Abend ganz in den Dienst der Autorin Luc Jochimsen.

Die er schätzen gelernt hat in den acht Jahren, der er ihr Fraktionschef in Berlin war. Weil sie die blieb, die sie ein Leben lang war: Die kritische Journalistin, neugierig und mit einem ungeduldigen Unverständnis, wenn die Leute nicht sehen wollen, was für sie doch offenkundig ist. Die sich maßlos über das Desinteresse vieler Menschen im Westen ärgert. Die eingestehen muss, dass sie es nicht geschafft hat, die Kultur, die Kunst des Osten in den anderen Teil Deutschlands einzubringen. Da ist es oft immer noch so, meint sie leicht resignierend, als erzähle sie von der anderen Seite des Mondes.

Aber all zu viel Platz gibt sie diesem Gefühl nicht. Lotti Huber hat, wenn es schon um besondere Buchtitel geht, mit ihren Erinnerungen „Diese Zitrone hat noch viel Saft!“ die Messlatte recht hochgelegt. Gregor Gysi drückt das nach fast zwei Stunden in Erfurt, natürlich, viel charmanter aus. „Du warst, du bist“, sagt er zu Luc Jochimsen, „einfach eine tolle Frau."

Gregor Gysi und Luc Jochimsen im Atrium der Stadtwerke

Fotos: Viadata

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