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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 26 2020

Vanessas Blog : Die Erfurter Herbstlese und ich (Teil 2, Oktober 2020)

Kein Wort über Campino

Vanessa Kaupe absolviert ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der Erfurter Herbstlese. Hier schreibt sie über ihre Erlebnisse.
Vanessa Kaupe absolviert ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der Erfurter Herbstlese. Hier schreibt sie über ihre Erlebnisse.

Von Vanessa Kaupe

Der Oktober brachte nicht nur Kälte, sondern auch ein großes Projekt mit sich, das mich den gesamten Monat lang begleiten sollte. Ehrfürchtig wurde ich vorerst Eingeweihte und schließlich Vorsitzende des gefürchteten Joachim-Gauck-Kartenumtausches. Doch was war geschehen?

Im Grunde hätte es nicht einfacher sein können: Joachim Gauck würde im Rahmen der Erfurter Herbstlese eine Lesung im Oktober abhalten. Eigentlich hätte diese Lesung bereits im Frühjahr 2020 stattfinden sollen – Corona funkte also dazwischen, sodass sie auf den Oktober verschoben werden musste. So weit, so verständlich. Und so sah das gesamte Team der Veranstaltung entgegen, bis die Freude durch eine folgenschwere Erkenntnis getrübt wurde: Die Zeiten hatten sich verändert. Während im Frühjahr 2020 eine weltweite Pandemie noch nicht abzusehen war, hatte die Herbstlese munter Karten für die Lesung von Herrn Gauck verkauft. Sehr viele Karten. Zu viele Karten. Zumindest zu viele für die aktuell geltenden Corona-Bestimmungen.

Nach einer temporären Verdrängungsphase fanden sich die Zuständigen und ich eines Tages dann doch zusammen und stellten fest, was wir eigentlich längst wussten: Die Veranstaltung war vollends überbucht. Zum Glück gelang es, einen zweiten Termin mit Herrn Gauck zu organisieren, sodass sich die Problemstellung von „Was machen wir jetzt?“ zu „Wie kontaktieren wir alle Gäste und bringen die Hälfte von ihnen dazu, den Termin zu wechseln?“ verwandelte. Und schon bald wurde klar, dass ich die Antwort auf die Frage „Wie“ sein sollte. Meine Odyssee begann.

Mithilfe einer Liste, die ich ein wenig modifizierte, kontaktierte ich sämtliche Gäste der zukünftigen Veranstaltungen. Ich verbrachte die Tage größtenteils am Telefon oder hinter meinem Rechner, die immer gleiche E-Mail versendend und auf eine positive Rückmeldung hoffend. Das mag sich im ersten Moment nicht sonderlich komplex anhören, doch wenn man bedenkt, wie viele der Personen unterschiedliche Probleme, Erwartungen und Ansprüche hatten, dann ist es nur verständlich, dass das einst so übersichtlich scheinende Projekt sich mit der Zeit immer mehr verästelte und immer mehr Lücken im System gefüllt werden mussten. So kam es, dass das System immer komplexer wurde, immer mehr Sonderfälle und auch Sonderregelungen innehatte und niemand mehr so wirklich wusste, wie er sich verhalten sollte, wenn sich erneut jemand wegen der Gauck-Karten meldete – Das heißt, niemand, bis auf mich. Ich bildete den Punkt, an dem die einzelnen Fäden zu einem einheitlichen Ergebnis zusammenliefen und wurde deswegen schon bald die Ansprechpartnerin Nummer eins. Wenig verwunderlich also, dass ich wochenlang mit dem Projekt beschäftigt war und es den Großteil meiner Arbeitstage füllte. Ebenfalls wenig verwunderlich, dass ich bemerkte, dass der Name „Gauck“ für mich inzwischen zu einer schlichten Aneinanderreihung von Buchstaben geworden war. Während ich früher an den ehemaligen Bundespräsidenten dachte, so denke ich jetzt an Karten und Tickets, weil die Erwähnung dieser zu Gauck dazugehört wie das Atmen zum Leben.

Ich investierte viele Mühen und vor allem viel Zeit in dieses Projekt, und so schmerzte es besonders, als mir bereits in der zweiten Oktoberwoche der Gedanke kam: „Hoffentlich finden die Veranstaltungen dann auch wirklich statt“. Wieso ich diesen Gedanken schon vor Beginn der Katastrophe hatte, lässt sich leicht erklären: Als Teil des Corona-Jahrgangs ist die Ungewissheit der Zukunft bereits jetzt in einem ungeahnten Ausmaß Bestandteil meines Denkens geworden. Wie sehr dieser zuerst als destruktiv wahrgenommene Gedanke recht behalten sollte, konnte ich zu diesem Moment noch nicht ahnen, also tat ich das, was der Mensch immer tut, wenn etwas Unerwünschtes in seiner Gedankenwelt auftaucht: Ich verdrängte und machte weiter.

Der Oktober bestand nicht nur aus den Gauck-Karten: Die dritte Etappe der Erfurter Herbstlese startete und die Betreuung der Abendveranstaltungen wurde schnell zu einem festen Bestandteil meiner Arbeit. Ich könnte jetzt alle Autoren und Künstler, die ich live erleben durfte, aufzählen, um mich darüber zu profilieren, aber stattdessen lasse ich Zsuzsa Bánk, Dirk Kurbjuweit und Campino unerwähnt. Und dass ich sogar im Anschluss mit Dirk Kurbjuweit Essen war, wäre nun wirklich zu viel der Angeberei.

Die Lesungen waren allesamt sehr unterschiedlich, aber doch prägend, jede auf ihre eigene Art und Weise. Am meisten bewegt hat mich dabei wohl der Anblick des Publikums: Mit 1,50 Metern Abstand saßen die Besucher und Besucherinnen dort in ihren Stühlen, aber doch verbunden durch die Sätze des Autors, dessen Worten zu lauschen sie hier waren. Sei es ein emotionales Buch über den Verlust des eigenen Vaters, ein auf wahren Begebenheiten basierender Kriminalroman oder eine komödiantische Autobiographie: Jedes Werk wurde voll Leidenschaft erschaffen und eben jene war es, die man während der Lesungen greifen konnte.

So verstrich mehr als die Hälfte des Oktobers und alles ging seinen gewohnten Gang, sogar das erste Seminar meines FSJs konnte wie geplant dreitägig in Jena und zweitägig online stattfinden. Dabei war es besonders schön, dass die Präsenzveranstaltungen inklusive Übernachtungen möglich waren, da sie insbesondere zum Kennenlernen der anderen FSJler in Erfurt dienen sollten und gerade das Kennenlernen etwas ist, das persönlich am besten funktioniert. Aber auch der Online-Workshop zum Thema „Presse- und Öffentlichkeitsarbeit“ hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Doch dann wendete sich das Blatt. Direkt nach unserem Präsenzseminar stiegen die Fallzahlen in Deutschland rapide an (man munkelt, dass es einen Zusammenhang gibt). So begab es sich, dass es am kommendem Montag zu einem tragischen Wiedersehen kam: Die Gauck-Liste lag auf meinem Schreibtisch und blickte mich vorwurfsvoll an. Die Stimmung im Büro war gedrückt, noch konnte man nichts mit Sicherheit sagen, aber wir wussten wohl alle schon, was folgen würde: Eine Absage aller Veranstaltungen, zumindest der in den nächsten Wochen. Als schließlich feststand, dass die Gauck-Veranstaltungen, für die ich in den letzten Wochen so leidenschaftlich gekämpft hatte, entfallen würden, kam die berühmte Gauck-Liste erneut zum Einsatz: Wieder musste jemand alle Personen kontaktieren, diesmal, um die Absage zu übermitteln. Wer? Ich bin mir sicher, dass ich diesen Posten aus reinem Trotz an mich gerissen hätte, doch offenbar verkraftete mein Körper die Neuigkeiten schlechter als erwartet: Die letzten Tage des Oktobers verbrachte ich krank zu Hause.

Doch obwohl man nun meinen könnte, dass sämtliche Mühen umsonst gewesen wären, muss ich widersprechen: Durch das Gauck-Projekt habe ich ziemlich viel dazu gelernt und musste eine große Eigenverantwortung zeigen. Jetzt das Gefühl zu haben, dass ich diese Verantwortung übernehmen kann, bestärkt mich sehr in meinem Handeln. Vielleicht lief nicht alles wie geplant, aber die Planung selbst lief grandios und das ist doch immerhin etwas, worauf man bauen kann.


 

Alle Folgen von Vanessas Blog lassen sich einfach per Klick aufrufen:

Teil 1, September 2020 „Wie ich gleich zur Legende wurde“

Teil 2, Oktober 2020 „Kein Wort über Campino“

Teil 3, November 2020 „Absage-Frust und Video-Lust“

Teil 4, Dezember 2020 „Hurra, es ist eine Randspalte“

Teil 5, Januar 2021 „Eye in the Skype”

Teil 6, Februar 2021 „Applaus, Applaus“

Die Fotos zu Vanessas Blog

Die Erlebnisse einer FSJ-lerin bei der Herbstlese

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