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März 14 2017

Dagmar Manzel und Knut Elstermann stellen "Menschenskind" vor – eine Autobiographie in Gesprächen

Frühlingslese mit einem großen Theaterkind

Ein Diva ohne Allüren. Dagmar Manzel kurz vor ihrem Abend im Collegium maius.
Ein Diva ohne Allüren. Dagmar Manzel kurz vor ihrem Abend im Collegium maius.

Von Sigurd Schwager

Autobiographie nennt man die Beschreibung des Lebens eines Menschen durch diesen selbst. Wobei das mit dem Höchstselbst so eine Sache ist bei Prominenten. Sie führen, um mit Werner Schneyder zu sprechen, ein solches „Gespräch unter zwei Augen“ aus Mangel an Zeit, Talent oder anderen Gründen eher selten. Oft lassen sie schreiben oder sich für ein Buch von einem Journalisten ihres Vertrauens ausführlich interviewen.

Letzteres gelangt dann als „Autobiographie in Gesprächen“ in die Hand des geneigten Lesers. Die Reihe der Bücher mit diesem Untertitel ist inzwischen regalmeterlang und bietet das volle Programm:  schrilles Marktgeschrei und pure Langeweile, aber zum Glück auch lebenskluge Feier der Sinne und des Geistes Das neueste der autobiographischen Gesprächsbücher heißt "Menschenskind" und gehört zu den unbedingt lesenswerten.

Dagmar Manzel, eine der besten und vielseitigsten Schauspielerinnen des Landes, ein Star ohne Allüren, zieht darin in schöner Unaufgeregtheit Zwischenbilanz eines reichen Künstlerlebens. Deutsches Theater und Komische Oper Berlin, Kino und Fernsehen, Preise ohne Ende.

Dass nun die Buchpremiere statt in Berlin in Erfurt stattfindet, schmückt den gastgebenden Herbstleseverein. „Es ist uns eine Ehre“, sagt Programmchefin Monika Rettig im natürlich ausverkauften Collegium maius in der Michaelisstraße.

So wie das Buch komponiert ist, entwickelt sich anschließend auch das Geschehen auf der Bühne. Dagmar Manzel und Knut Elstermann, die beiden Autoren von „Menschenskind“, lesen keine Gesprächspassagen mit wechselnden Rollen vor, sondern streifen unterhaltsam auf dem Lebensweg der Berliner Schauspielerin und Sängerin. Dazwischen gibt es gelesene Texte aus dem Buch, die nicht Teil des Gesprächs sind, dieses aber gutergänzen.

Knut Elstermann liest sein Vorwort. Er könne sich gut vorstellen, heißt es darin, dass Dagmar Manzel irgendwann selbst über sich schreiben werde, dass das jetzige Buch vielleicht auch eine Einübung im Reden über sich selbst gewesen sei.  Wer „Menschenskind“ gelesen und Dagmar Manzel in freier Rede erlebt hat, sehr humorvoll, reflektiert und bodenständig zugleich, der glaubt das sofort.

„Menschenskind“, sagt sie im Buch und auch in Erfurt, „das bin wohl ich, denn dieses Wort beschreibt für mich das Leben überhaupt . . . Jeder wird unschuldig geboren, das muss man jedem Menschen zugestehen, und dann prägt ihn das Leben, formen ihn die Umstände. Du begegnest Menschen, die man liebt und verehrt, oder auch Menschen, die man zutiefst verachtet. Vielleicht sollten wir versuchen, dieses Menschenskind in uns zu bewahren.

Andererseits ist Menschenskind auch der Berliner Ausdruck einer humorvollen Zurechtweisung: Menschenskind, nu stell` dir doch nich so an! Reiß dich mal zusammen und nimm dich nicht so wichtig. Das ist in seiner herrlichen Direktheit einfach genial.“

Auf Dagmar Manzels Friedrich-Hollaender-CD sind die ersten Worte, die sie singt: „Menschenskind, warum glaubst du bloß, gerade Dein Schmerz, dein Leid wären riesengroß." Sie liebt klassische Musik, Oper, Operette, Musical. „Musik“, sagt die großartige Facharbeiterin der Schauspielkunst, „ist für mich so wichtig wie die Luft zum Atmen. Musik ist die direkte Verbindung zum Herzen, es geht bei ihr immer um Großes: Liebe, Tod, Abschied.“

Das ist es, worüber sie am liebsten spricht und schreibt: ihre Arbeit, die sie liebt und für deren Gelingen sie Harmonie braucht. Über wunderbare Kollegen spricht sie, mit denen sie auf der Bühne oder vor der Kamera steht, Hübchen und Habicht, Matthes und Groth. Über verehrte Künstler wie Carow, Heiner Müller und Thomas Langhoff, Tarkowski und Wajda.

Und über Johannes Bobrowski, „einen der größten Dichter des 20. Jahrhunderts“. Ihm verdankt der Erfurter Abend seinen schönsten Moment, als Dagmar Manzel sein Gedicht „Der Vogel, weiß“ vorträgt:

Der Vogel, weiß,
den eine Regung der Luft
hinaustrug über den Tod,
der mit fahlen Federn
steht unbeglänzt
über dem Hügel, einer
Birke, über dem eigenen
Schatten. Der Schatten ging
vom Wasser hinauf
auf den Sand . . .

Berührend ist, wenn Dagmar Manzel liest, was ihre beiden Kinder Klara und Paul über sie gesagt haben. Es sind Texte, die eine Mutter einfach nur glücklich machen. Das sensible Publikum bekräftigt das Kinderlob mit Szenenapplaus.

Einmal, als sie das Tochter-Urteil vorträgt, sie sei perfektionistisch, unterbricht sie den Text mit einem „Stimmt!“ Belege für diesen Wesenszug findet man im Buch durchaus zahlreich. Zum Beispiel diesen aus jungen Jahren: Mit 23 spielt sie als Schauspielstudentin ihre erste Rolle in „Jutta oder Die Kinder von Damutz“. Das Stück wird wegen des großen Erfolgs vom DDR-Fernsehen in Karl-Marx-Stadt aufgezeichnet.

„So sah ich mich zum ersten Mal auf dem Bildschirm“, erzählt Dagmar Manzel, „war zutiefst erschrocken und schrieb einen Kündigungsbrief an den Regisseur Horst Schönemann, den ich sogar noch besitze . . . Da stehen Sätze wie: ‚Ich bin eine Zumutung auf der Bühne für jeden Kollegen. Ich weiß nicht, wie ich diesen Beruf ausüben soll. Ich bin jetzt schon am Ende.‘

Dann setzte ich mich auf das Fensterbrett, starrte auf den riesigen Marx-Kopf, rief meine armen Eltern an und sagte, dass ich mich jetzt umbringen werde. Mein Vater tat genau das Richtige, er brachte mich mit einem Satz wieder zurück ins Leben: ‚Ich bestelle jetzt sofort ein Taxi und komme nach Karl-Marx-Stadt.‘

Die Vorstellung, zu Ostzeiten einfach ein Taxi zu bestellen und dann für unglaublich viel Geld nach Karl-Marx-Stadt zu fahren, wenn der Taxifahrer sich überhaupt darauf einlassen würde, war so absurd, dass ich dann beschloss, weiterzuleben."

Wie sie an die DDR zurückdenke, fragt Knut Elstermann Dagmar Manzel im Buch und in Erfurt. Deutlich wird: Sie verklärt nicht, weder das Unrecht, das Eingesperrtsein noch das Absurde. Aber, sagt sie, für sie sei es dennoch eine schöne und wichtige Zeit gewesen, die zu ihrem Leben gehöre. „Das gibt mir eine Bodenständigkeit, von der ich heute profitiere. Ich möchte diese Erfahrungen nicht missen.“

Den Schlusspunkt der großen Manzel-Lobpreisung, die Wort für Wort nichts als die reine Wahrheit ist, setzt Barrie Kosky, Regisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin, indem er über die „phantastische Rampensau“ Dagmar Manzel schreibt: „Sie ist eine Anti-Diva, wie alle großen Künstler . . . Die großen Künstler sind sehr höflich, professionell, großzügig wie Dagmar, die deshalb von allen geliebt wird . . . Sie ist ein Theaterkind, das an keinem anderen Ort der Welt lieber sein will als auf der Bühne.“

Ende der Erfurter Vorstellung. Starker, herzlicher Beifall füllt das Collegium Maius. Die 90 pausenlosen Minuten sind wie im Flug vergangen. 90 Minuten – „Tatort“-Länge. Natürlich kam Hauptkommissarin Paula Ringelhahn an diesem Abend auch vor, und dass der nächste fränkische „Tatort“ am 9. April zu sehen sein wird. Aber angemessen, also eher nebenher, denn Dagmar Manzel mag zwar ihre Ermittler-Rolle, doch sie definiert sich nicht darüber.

Und beim Abgang denkt sich der Berichterstatter: Wären doch nur alle „Tatorte“ so spannend und kurzweilig wie die 90 Minuten „Menschenskind"! 

Dagmar Manzel im Collegoim maius

Fotos: Holger John

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