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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 11 2017

Herbstlese-Finale mit dem Literaturkritiker Denis Scheck im ausverkauften Erfurter Theater

Voller Durchblick auch ohne Lesebrille

Kein Herbstlese-Finale ohne Denis Scheck.
Kein Herbstlese-Finale ohne Denis Scheck.

Von Sigurd Schwager

Frei nach Bernhard-Victor Christoph-Carl von Bülow darf man zur Kenntnis nehmen: Ein Herbstlese-Finale ohne Denis Scheck ist möglich, aber sinnlos. Also verabschiedet der wortgewaltige Literaturkritiker auch den Jahrgang 2017. Und natürlich geht es bei seinem nun schon elften Bücherfest-Auftritt zu wie immer. Volles Haus, ziemlich gute Laune im Saal und auf der Bühne. Das passt als Ausklang und Zusammenfassung der 21. Herbstlese, wo jede zweite Veranstaltung ausverkauft war und insgesamt fast 15 000 Besucher kamen.

„Schön, wieder in Erfurt zu sein“, sagt Denis Scheck, nachdem der Begrüßungsbeifall im Theater verklungen ist. Auf dem Tisch, an dem er Platz genommen hat, türmen sich die Bücher, die er in den nächsten zwei Stunden dem Publikum vorstellen wird.

Selbiges lernt aber zunächst einmal, dass auch der klügste Kritiker kein unfehlbares Wesen ist. Denis Scheck hat nämlich seine Lesebrille vergessen. „Des Menschen Leben gleicht der Brille – es macht viel durch.“ Ob der Herbstlese-Gast innerlich mit Heinz Erhardt seufzt, wissen wir nicht, wohl aber, dass das kleine Malheur seinen Durchblick nicht im mindesten beeinträchtigen wird.

Der Herr der Bücher beginnt seinen Gang durch die literarische Welt 2017 mit einem Blick auf sein Smartphone. Von diesem liest er ein Gedicht in spanischer Sprache ab:


avenidas

avenidas y flores

flores

flores y mujeres

avenidas

avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y

un admirador.


Es folgt die deutsche Übersetzung:
 

Alleen

Alleen und Blumen

Blumen

Blumen und Frauen

Alleen

Alleen und Frauen

Alleen und Blumen und Frauen und

ein Bewunderer.


Dann erzählt der leidenschaftliche Lyrik-Liebhaber Denis Scheck, wie diese sechseinhalb Jahrzehnte alte Gedicht von Eugen Gomringer in das Mühlwerk deutscher Realsatire geriet: Als der Dichter im Jahre 2011 den Alice Salomon Poetik Preis erhielt, wurde eine Fassade der gleichnamigen Hochschule in Berlin-Hellersdorf mit den spanischen Avenidas-Zeilen versehen. Nun sollen sie entfernt werden. Sie seien frauenfeindlich, sexistisch, meint die Studentenvertretung. Weg damit!

Denis Scheck kann in Erfurt seinen Zorn darüber nur mühsam mit Sarkasmus bändigen. Er fordert das Publikum auf: Warten Sie nicht, bis die Kultur-Talibane kommen! Laufen Sie durch die Museen und schauen Sie sich, so lange es noch geht, die Akte und all die anderen unzüchtigen Kunstwerke an!

Von Eugen Gomringer ist der Künstlerweg nicht weit zu dessen Tochter Nora. Denis Scheck empfiehlt das Hörbuch „Peng Peng Peng“. Der eine oder die andere im Saal erinnert sich gut daran, denn die Bachmann-Preisträgerin hat es mit Drummer Philipp Scholz zur diesjährigen Herbstlese vorgestellt.

Nach dem Prolog wechselt Scheck auf das weite Feld der Bestseller und eröffnet seine Betrachtungen mit dem Hinweis, dass es sich dabei nicht um die besten Bücher handele, sondern um jene, die sich am besten verkauften. 

Dies ist der rechte Zeitpunkt für eine kurze, eine kurzweilige Rocky Horror Bücher Show mit den üblichen Verdächtigen, deren Bücher er freiwillig nie lesen würde. Von Paul Coelho bis Sebastian Fitzek, von Susanne Fröhlich bis Marion Käßmann. Auch die billigen Trostweisheiten vom Bestseller „Penguin Bloom“ seien ihm ein Graus, sagt er. Und was bitteschön solle man von einem Buch halten, das „Die Zweige der Esche“ heißt und auf dem Cover einen Ahornbaum zeige? Nicht zu reden vom Regionalkrimi, „dem größten Misthaufen der deutschsprachigen Literatur.“

Horribler Sonderfall ist ein Buch von Donald Trump. Als „Wie man reich wird“ erschien, war noch nicht abzusehen, dass er einmal US-Präsident werden würde. Ausleser Scheck hat es tatsächlich von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen und dabei ein Kapitel gefunden, in dem der Autor erklärt, warum er keinesfalls Präsident werden möchte. „Ich wünschte mir so sehr“, sagt Scheck, „Herr Trump hätte sein eigenes Buch gelesen.“

Damit die Damen und Herren im Saal beim Literatur-Eilmarsch nicht die Übersicht verlieren, haben sie zuvor am Einlass einen Zettel erhalten, auf dem die Namen der Autoren und ihre Buchtitel stehen, allerdings nur die empfohlenen. Das sind immerhin 34 von A wie Anuk Arudpragasam („Die Geschichte einer kurzen Ehe“) bis Z wie Feridun Zaimoglu („Evangelio“).

Neben Nora Gomringer werden noch zwei weitere Herbstlese-Gäste 2017 mit dem Lob des gestrengen Kritikers bedacht: Ingo Schulze für seinen sehr schlauen Schelmenroman „Peter Holtz“ und Sven Regener für „Wiener Straße“ und seinem souveränen Umgang mit Dialekten.

Vor manchen Autoren kniet der Kritiker, der so scharf austeilen kann, einfach nur nieder. Daniel Kehlmanns neues Buch „Tyll“ ist für ihn „Breitleinwand-Kino für den Kopf, unglaublich gut, ein meisterhafter Roman“. Er wüsste, sagt Scheck, zur Zeit nichts Besseres in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Vom Büchnerpreisträger Jan Wagner, dessen Lyrik er bewundert, liest Scheck ein Gedicht, „versuch über servietten“ genannt:


liegen sie zerknüllt am tellerrand,

mit nichts als dem roten falter

aus lippenstift im innern; früh genug

schweben sie mit ihresgleichen

durchs fegefeuer der größwäscherei.


Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“ beeindruckt ihn so sehr, dass er die angekündigte Fortsetzung als „beglückende Nachricht“ empfindet. Über Hanya Yanagiharas Meisterwerk „Ein wenig Leben“ gerät er ins Schwärmen, ebenso über Dorothy Parker, aus deren Gedichtband „Denn mein Herz ist frisch gebrochen“ er vorträgt. Obendrein gibt es coole Sprüche der außergewöhnlichen Amerikanerin, etwa diesen: „Ich liebe Martinis, trinke höchstens zwei. Bei dreien liege ich unter dem Tisch, beim vierten unter dem Gastgeber.“

Vom aktuellen Literatur-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, einem Brückenbauer zwischen Kulturen und Genres, empfiehlt Denis Scheck gleich zwei Bücher: „Der begrabene Riese“ und „Alles, was wir geben mussten“. Der „hochverdiente“ Nobelpreis 2017 gibt ihm die schöne Gelegenheit, seine Kritik an der Vergabe 2016 zu wiederholen. Bob Dylans Auszeichnung bleibt für ihn eine Fehlentscheidung. Und der Berichterstatter bleibt dabei, dass der geschätzte Kritiker hier irrt.

Vielleicht könnte man sich auf die Einschätzung eines Mannes einigen, der den Preis ebenfalls verdient hätte, nämlich Leonard Cohen. Der kommentierte die Dylan-Ehrung wie folgt: „Für mich ist das in etwa so, als würde man ein Schild vor dem Mount Everest errichten, auf dem ‚höchster Berg der Welt‘ steht.“

Langer, herzlicher Beifall beendet einen anregenden, sprachlich eleganten und überwiegend heiteren Abend. Die Besucher packen die Zettel mit den Empfehlungen und ihren Notizen von der Lesung ein. Und sie nehmen den Satz des Kritikers mit, dass letztlich jeder selbst entscheiden muss, welches Buch zu ihm passt.

Mehr Lob und Tadel von Denis Scheck in einem Jahr. Loriot lässt grüßen.

Denis Scheck im Theater Erfurt.

Fotos: Holger John

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