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Erfurter Herbstlese
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März 29 2017

Nachwuchs ohne Haarwuchs: Christian „Kuno“ Kunerts Roman-Debüt „Ringelbeats“

Fast so schön wie Ringelpietz mit Anfassen

Auf der Bühne, mit seiner Gitarre, legt Kuno erst richtig los.
Auf der Bühne, mit seiner Gitarre, legt Kuno erst richtig los.

Von Sigurd Schwager

Der erste Beifall des Abends gilt nicht Kuno, sondern Holger. Denn Holger John, der geschätzte Herbstlese-Fotograf, hat seinen Freund Christian Kunert, den alle nur Kuno nennen, zur Frühlingslese geholt.

Ein absoluter Wunschgast also. Dafür gibt es einen guten Grund: Der Mann, der mit Renft in den frühen Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts zu unvergänglichem Rockerruhm kam, debütiert nun kurz vor seinem 65. Geburtstag als Schriftsteller, als Romanautor.

Sein Erstling trägt den schönen Titel „Ringelbeats“. Klar, dass er seit dem Erscheinen immer wieder gefragt wird, ob das eine verkappte Autobiografie und der ostdeutsche Held Jacobus „Cobu“ Kubisch vielleicht doch ein gewisser Christian „Kuno“ Kunert aus Leipzig sei.

Ebenso klar immer wieder die Antwort: „Nein, das ist ein Roman.“ Hanno Müller von der „Thüringer Allgemeinen“ zitiert Kuno in dieser Angelegenheit so: „Ich habe das alles ähnlich erlebt, aber eben nur ähnlich. (. . .) Dieser Cobu, das war so nicht geplant, ist mir beim Schreiben immer ähnlicher geworden. Da kann der nichts dafür. Aber er ist ein ganz anderes Kaliber. Der hat wirklich was erlebt. Das wird es wohl auch sein, warum ich seine Biografie erzähle und nicht meine.“

In Erfurt, in der Aula des Ratsgymnasiums, zeigt sich Kuno sichtlich gerührt vom herzlichen Begrüßungsbeifall und gibt sogleich mit blitzenden Augen vor, was die Veranstaltung bis zum Ende prägen wird: Ringelbeats-Ringelpietz, ein fröhliches, geselliges Beisammensein, allerdings ohne Tanz. „Ich bin glücklich“, beginnt Kuno, „dass ich Ihnen aus meinem Buch etwas vorlesen muss.“

Doch zunächst liest er nicht. Er greift zu seiner Gitarre und singt die Ballade vom Mann ohne Feindbild, die davon handelt, wie jeder und alles, selbst die Klobrille, ein Feindbild hat und auch braucht. Es werden noch mehrere musikalische Einlagen folgen.

Das Erstaunlichste daran ist, dass es sie überhaupt gibt. Denn vor 11 Jahren hat Kuno sein Gehör verloren. Man weiß das, es steht auch im Klappentext des Buches, aber man merkt es nicht. Die Medizin scheint mit ihrer Technik Wunder zu vollbringen, und Kuno kann damit umgehen. 

Er spricht im Verlauf des Abends auch darüber. Mit der Musik sei das heute so eine Sache, sagt er, da komme er sich wie ein Blinder vor, dem man ein Glasauge eingesetzt habe.

Der Eulenspiegel-Verlag bewirbt den Roman mit einem Satz, der gut zum Autor passt: „Ringelbeats ist eine unernste Tragödie, ein Märchen voller Realität, gewürzt mit etwas Irrsinn und dem unvermeidlichen Ernst des Lebens.“

Kuno liest in Erfurt unter anderem aus dem Kapitel „Stadt der Witwen“. Wir erleben darin den späteren „Ringelbeats“-Musiker und noch späteren Brettlkünstler Jacobus im Kindergarten der Erbarmenskirche. Dort ist Schwester Judith damit befasst, die Kleinen in ihren Leibchen mit Strumpfhaltern vor einem Entblößer zu warnen, der sich nächstens in der Schlippe herumtreibt.

An dieser Beschreibung wird exemplarisch deutlich, was Kuno, der Romancier-Nachwuchs ohne Haarwuchs, am Besten kann: mit heiterer Leichtigkeit urkomische Geschichten erzählen – und sie so vortragen wie ein guter Kabarettist.

Auf der Reise durch sein Buch nimmt Kuno das Erfurter Publikum auch an die Stelle mit, wo Mysteriöses geschieht, wodurch Frührentner Cobu auf Dinge aus seiner Vergangenheit gestoßen wird. Eine Ereigniskette, von der der Held nicht weiß, wie die einzelnen Glieder miteinander verbunden sind. Ein Leben im Rückblick

So ist es kein Zufall, dass Kuno, der „Ringelbeats“ ein Wort von John Lennon vorangestellt hat, „Strawberry Fields“ vorträgt, den genialen Beatles-Song mit der rückwärts aufgenommenen Instrumentierung. „Let me take you down . . .“ Lennons Kindheitserinnerungen. Kunos Erinnerungen.

Mit den meisten seiner Kollegen, sagt Christian Kunert, könne er sie nicht mehr austauschen, weil sie inzwischen gestorben sind.  Er zählt sie nicht auf, aber die Zuhörer im Saal wissen, wer gemeint ist. Der Texter und enge Kuno-Freund Gerulf Pannach, Klaus Renft, Peter „Cäsar“ Gläser, Peter Kschentz.

Die Rede geht von Renft, zu ihrer Zeit die wichtigste Rockband der DDR.  Nur zwei Amiga-Langspielplatten dürfen erscheinen, die erste 1973, die zweite und letzte 1974.  In der Besetzung mit Renft, Gläser, Kschentz, Jochen Hohl, Thomas „Monster“ Schoppe und Christian Kunert ist Kuno der Jüngste. Mit 19 wird er Keyboarder der Band.  Der einstige Thomaner singt aber auch, wird im Kontrast zu Monster und Cäsar die glockenhelle Stimme von Renft.

„Irgendwann will jedermann raus aus seiner Haut. / Irgendwann denkt er dran, wenn auch nicht laut . . .“ Dem Lese-Berichterstatter geht „Als ich wie ein Vogel war“ bis heute nicht aus dem Sinn, und auch nicht die gelbe Straßenbahnballade oder das aus blauen Pflastersteinen gebaute Lied. Nicht zu vergessen „Helpless“. Keiner hat Neil Young im Konzert besser gecovert.

Doch ab 1975 ist Schluss mit alldem. Auf die rebellische Kraft der Rockmusik („Das Leben ist ein Lotto. Doch die Kreuze macht ein Funktionär.“) reagiert die Staatsmacht mit Verbot. Damit ist die Band praktisch aufgelöst. 1976, nach Wolf Biermanns Ausbürgerung, werden Kunert und Pannach wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet und schließlich im Sommer 1977 nach Westberlin abgeschoben.

Das Leben danach: ein Auf und Ab mit manch schönem Erfolg und manch schwerer Stunde. Und jetzt „Ringelbeats“. Das ist „kein lebensverlängerndes Buch“, sagt Kuno und blickt vergnügt in die Runde. „Aber wenn sie beim Lesen sterben, dann lächelnd.“ Schöner sterben. Das wollen wir ihm unbedingt glauben.

Natürlich entlässt ihn das Publikum nicht ohne musikalische Zugabe. Da geht noch einmal die Thüringen-Post ab, wenn der Lodar mit seinem Dojoda zum Shobbing fährt nach Goda. „Es war mir ein Vergnügen“, verabschiedet sich der gutgelaunte Gast von den vergnügten Zuhörern.

Und weil der Ort des Geschehens eine Aula ist, gibt es eine Note: Die Frühlingslese mit Kuno verdient eine glatte Eins.

Christian "Kuno" Kunert im Ratsgymnasium

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