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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 19 2016

Herbstlese-Liebling Stefan Schwarz gibt mit "Oberkante Unterlippe" seinem Affen Zucker

Große komische Oper

Bei der Frühlingslese war Stefan Schwarz schon oft zu Gats - jetzt hatte er seine Herbstlese-Premiere; gleich im Theater.
Bei der Frühlingslese war Stefan Schwarz schon oft zu Gats - jetzt hatte er seine Herbstlese-Premiere; gleich im Theater.

  Von Sigurd Schwager

  Beginnen wir mit einem Publikumslob. Erfurt ist eine weltoffene Stadt für Humorarbeiter und ihre sehr verschiedenen Spielarten von So-geht-lustig. Den Beweis liefert an diesem Abend der Zufall. Während oben in der Gothaer Straße Mario Barth seine Nummer „Männer sind bekloppt, aber sexy!“ in der Messehalle startet, beginnt zeitgleich unten auf dem Theaterplatz in der Oper Stefan Schwarz mit der Lesung aus seinem neuen Buch, der Lebenskomödie „Oberkante Unterlippe“. Neben der Anfangszeit haben beide Veranstaltungen eine zweite Gemeinsamkeit. Messe und Theater sind ausverkauft.

  An dieser Stelle verlassen wir Mario Barth für immer und widmen unsere volle Aufmerksamkeit dem Autor, über den die kluge „Zeit“ urteilt, seine Bücher seien lebensklüger und sprachgewandter als vieles, was man sonst so von Comedy-Autoren in die Hände bekomme. Der lebenskluge und sprachgewandte Stefan Schwarz ist Gast der Erfurter Herbstlese, man könnte auch sagen: ein Lieblingsgast, ein echter Publikumsliebling. 2015 war das Interesse an dem kleinen Mann aus Leipzig, seinem Buch „Wir sollten uns auch mal scheiden lassen“ und seiner Vortragskunst so groß, dass neben dem Auftritt im alten Gewerkschaftshaus noch ein zusätzlicher Termin anberaumt werden musste.

  Diesmal haben die Herbstlese-Planer Vorbeugung walten lassen, und so trifft sich nun die stattliche Fangemeinde des subtilen, sprachschönen Humors im großen Opernsaal, wo sich tags darauf der Premierenvorhang für Mozarts Oper „Cosi fan tutte“ heben wird. Stefan Schwarz, das weiß der Leser und vor allem die Leserin seiner Kolumnen und Bücher, ist kein Cosi-fan-tutte-Mann, kein So-machen-es-alle-Autor, sondern ein So-machen-es-nur-wenige-Schreiber. Jürgen von der Lippe, der von Komik viel versteht, hält ihn für den komischsten Comedy-Autor und den sprachmächtigsten noch dazu.

  Stefan Schwarz kommt, bewehrt mit einer dicken Aktentasche, auf die Bühne, genießt den wogenden Beifall und gestaltet eine opernreife Ouvertüre der Lesung. Er macht einen höflichen Knicks, dreht dann den Rücken dem Publikum zu, um sich mit selbigem im Hintergrund von Herbstlese-Fotograf Holger John gekonnt ablichten zu lassen. Anschließend holt er sein Handy zum, na klar, Selfie hervor. Auch die Erkältung, die sich auf Leib, Seele und Stimme des Autors gelegt hat, zelebriert er. Er nutzt sie als dramaturgisches Element, gießt Tee aus der Thermoskanne in die Tasse, süßt mit flotter Biene und murmelt mit angerauter sanfter Stimme, den Abend und die Umstände betreffend: „Rock`n`Roll“. Den bietet der Abend tatsächlich: Rock`n`Roll in slow motion.

  Sein Buch „Oberkante Unterlippe“, sagt Stefan Schwarz, sei kein Roman, sondern ein Anleitungsmaterial für Menschen, die sich scheiden lassen wollen. Und eine Schmähschrift gegen die romantische Liebe. Dann beginnt er vorzulesen, womit das Buch beginnt: „Wir alle lieben magische Momente. Ich würde sogar behaupten, dass sie für die meisten Menschen der eigentliche Sinn des Lebens sind. Sie wissen, was ich meine. Alles für diesen Moment: Sonnenuntergang. Meeresbrise. Jungsein. Grünflaschenbiertrinken. An einem weißen Strand. Sand, der von der Haut rieselt. Wir alle wollen hingerissen und überwältigt werden von der Liebe auf den ersten Blick ... Wir sind Moment-Junkies ... Ich werde ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die mit einem magischen Moment beginnt. Aber wenn Ihnen im Verlauf dieser Geschichte nicht nach und nach die Erkenntnis dämmert, dass magische Momente des Teufels sind, dann ist Ihnen auch nicht mehr zu helfen. Dann suchen und seufzen Sie von mir aus weiter nach magischen Momenten, nach der Liebe auf den ersten Blick. Ich jedenfalls bin raus.“

  Der Ich-Erzähler und Held des Buches heißt Jannek Blume und ist ein schöner, wenig erfolgreicher Schauspieler. Stefan Schwarz liest die Szenen, in denen Jannek die Hamburger Chefarzttochter Larissa kennen und nach allerlei Schwierigkeiten lieben lernt, was die zuhörenden Damen im Saal zu starken Heiterkeitsbekundungen veranlasst. Als später Larissas Dekolleté deutlich barocker wird, lässt Schwarz das Publikum teilhaben am Ablauf des Besuchs bei den Schwiegereltern in spe. Es fällt eine Bemerkung, die im weiteren Verlauf der Geschichte von Bedeutung sein wird. Professor Doktor Erhard Langpapp spricht zu seiner Gemahlin Dorothea über den in der DDR geborenen Schwiegersohn: „Er hat was Lateinisches. Iberischer Typus ... Weißt du, was ich denke: Sein Vater war ein Ausländer.“

  Dann wird Timotheus Nepomuk, genannt Timmi, geboren, der sich zu einem verhaltensoriginellen Kind entwickelt. Streit verdrängt die magischen Momente. Trennung und Tristesse, Alltagsärger und Sorgerechthaberei - das Übliche eben. Der Zuhörer erkennt sich wieder. Doch weil es das Beziehungschaos der Anderen ist, löst sich alles im Lachen auf.

  Trotz manch skurriler Einfälle: Eigentlich ist nicht wirklich wichtig, was Stefan Schwarz im Buch oder auf der Bühne erzählt, sondern wie er es tut. Wo viele andere gern eine billige Gag-Hatz betreiben, setzt er lässig die Pointen. Das kommt gut an. Als der Autor gegen Ende das Erfurter Publikum fragt, welches Kapitel er noch vortragen solle, lautet die Antwort: Alle! Da der stimmgeschwächte Mann aber schon fast 90 Leseminuten lang alles gegeben hat, begnügt sich das einsichtige Publikum mit einer kürzeren Passage, handelnd vom Elternabend im Kindergarten. Darin kriegt Jannek Blume als Versager-Vater sein Fett weg. Vorspiel dazu: „Die Frau lud ihr Gesicht durch und starrte mich an.“ Und der Herbstlese-Berichterstatter denkt sich dabei: Ein Satz, für den ganz allein man dieses Buch und seinen Autor schon mögen muss.

  Ganz zum Schluss, der rauschende Beifall ebbt langsam ab, dankt Stefan Schwarz dem Publikum und verabschiedet sich mit einer Bitte, die nur versteht, wer das Buch kennt: „Und das mit Fidel Castro bleibt unter uns!“ 

Stefan Schwarz im Theater Erfurt

Fotos: Holger John

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