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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 08 2014

Matthias Gehler im Nerly

Im Paternoster der Zeit

Matthias Gehler nannte sein Erinnerungsbuch im Untertitel treffend "Lebenslieder"
Matthias Gehler nannte sein Erinnerungsbuch im Untertitel treffend "Lebenslieder"

Ist es wirklich schon 25 Jahre her, dass in Berlin die Mauer fiel? Man mag es nicht glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Aber es muss wohl stimmen, sonst wären nicht die Zeitungen voll mit dem Thema, flimmerten nicht immer wieder die Bilder aus dem Herbst 1989 über den Bildschirm, wären nicht auf fast allen Frequenzen historische Worte zu hören. Selbst die „heute Show“, noch jung an Jahren, schaltet frech in die Vergangenheit.

An die hat jeder seine eigenen Erinnerungen. Die sind nicht immer wirklich von den tatsächlichen Ereignissen gedeckt, vieles verklärt sich mit dem Blick zurück. Viele Hoffnungen von damals erscheinen heute wirklichkeitsfremd, das Stichwort Neues Forum sollte reichen. Was für eine wilde Zeit, die heute auf zwei, drei Kernereignisse zusammenschnurrt. Es ist die Crux der Geschichte, besser der Geschichtsschreibung, dass die Details mit den Jahren immer unwichtiger werden.

Dabei sind es doch gerade die kleinen Erinnerungen, die verstehen lassen, was damals den Deutschen passierte. Nicht, dass die offizielle Geschichtsschreibung dadurch in Misskredit geriete, aber ein wenig anders, so der Eindruck, war es damals schon, als sich Schlagbäume hoben und Bananen bald überall zu haben waren.

Matthias Gehler hat diese Zeit erlebt, sie selbst mitgestaltet. Als Sprecher der ersten frei gewählten Regierung in der DDR war er nicht nur dabei, sondern mittendrin. So einer, da kann es keinen Zweifel geben, muss doch etwas zu erzählen haben.

Das fand auch Willi Wild, Gehlers Mitarbeiter beim MDR. Auf einer langen gemeinsamen Autofahrt erzählte der Chef eine Schnurre nach der anderen, wie es war, als er immer mehr sang als predigte, Angela Merkel seine Stellvertreterin wurde und ein ganzes Land plötzlich zur Abwicklung stand.

Abwicklung, ein scheußliches Wort, das heute kaum noch zu hören ist. Ein Akt gnädiger Verdrängung?

In der Tat, jede Erinnerung zählt. Die Herbstlese macht sich in diesem Jahr um diese Erinnerungen verdient. Es ist nicht nur Matthias Gehler, der es damit in das Programm des Festivals geschafft hat. Und, auch das sei klar bemerkt, ist gut so.

Im Nerly wird das überdeutlich. Der Abend mit Gehler und Wild ist wie eine Fahrt im Paternoster der Zeit; du fährst in den Keller der Erinnerung und weißt nicht, was gleich auf der anderen Seite hochkommt. So einen Endlos-Lift gab es ausgerechnet bei der Treuhand in Berlin. Das ist auch so ein Begriff, Treuhand, der dieser Jubel-Tage selten fällt. Als damals langsam klar wurde, wohin die Reise gehen wird, haben sich ein paar Kabarettisten getraut und ein böses Programm auf ihr Brettl gebracht. Der Titel: „Es war nicht alles gut“. Junge, was haben die Prügel bezogen.

Ein wenig ist es immer noch so. Gegen den Strich wird auch nach 25 Jahren wenig gebürstet. Wer möchte schon ein Ewiggestriger sein? So hält es denn auch Matthias Gehler. Er, als Chefredakteur ja nicht irgendwer, bleibt bei dem, was das Publikum erwartet. Oder die Öffentliche Meinung. Oder wer auch immer.

Das ist dennoch nicht wenig. Seine Schilderungen der alltäglichen Absurditäten eines Landes, das der bessere Teil Deutschlands zu sein vorgab, sind wichtig. Es ist ihm nicht hoch genug anzurechnen, dass er sich öffentlich erinnert. „In seinen Liedern“, schreibt die Kanzlerin gleich im ersten Satz ihres Grußwortes zum Buch, „bringt Matthias Gehler auf sehr persönliche Weise zum Ausdruck, was viele Menschen zu DDR-Zeiten bewegte, ohne es offen anzusprechen.“

Irgendwie ist das auch mit diesem Buch so, das voll ist mit den Texten des Liedermachers, die poetisch sind, keine Frage. Aber das Leben des Autors selbst, das hält sich in den Zeilen bedeckt.

Sei es darum. Im Nerly erhalten die Zuhörer eine Lehrstunde deutsch-deutscher Geschichte. Wer wollte sich anmaßen, von diesen 90 Minuten die Welt erklärt zu bekommen. Das geht schlechterdings nicht. Das Publikum ist hochzufrieden. Am liebsten würde es noch mehr Lieder hören.

So bleibt die Frage, warum Gehler die Gitarre vor 25 Jahren in die Ecke stellte. Klar, er hatte und hat viel zu tun. Als Erklärung reicht das nicht. Indes: Wie soll man als Liedermacher weitermachen, wenn das, worüber man singt, einem plötzlich abhandenkam? Ein Text, mit „Nach der Wende“ datiert, geht so: „Und von früher die schweigsamsten Leute, das sind die größten Redner von heute.“

Andere Musiker haben von vorn begonnen, viele sind in die Nische ausgewichen. Liedermacher gibt es fast nicht mehr. Matthias Gehler hat sich 25 Jahre zurückgehalten, bis jetzt, bis ein Kollege und Freund sagte: Schreib das auf. Und vor allem: Sing wieder!

Im Paternoster der Zeit

Foto: Holger John

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