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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 14 2015

Steffen Mensching stellt in der Buchhandlung Hugendubel Victor Klemperers Münchner Revolutionstagebuch vor

Man möchte immer zuhören und nachdenken in einem

Steffen Mensching, Intendant des Theaters Rudolstadt, in der Buchhandlung Hugendubel.
Steffen Mensching, Intendant des Theaters Rudolstadt, in der Buchhandlung Hugendubel.

Von Sigurd Schwager

Steffen Mensching ist ein kluger Mann, ausgestattet mit vielfältigen künstlerischen Begabungen.Die Erfurter Herbstlese verdankt dem Rudolstädter Theaterintendanten nun einen das Publikum nachdenklich stimmenden und klüger machenden Victor-Klemperer-Abend.

Doch in einem Punkt wähnt der Berichterstatter den Vortragenden im Irrtum. Die unter dem Titel „Man möchte immer weinen und lachen in einem“ erstmals versammelten Texte aus der Zeit der Münchner Räterepublik nennt Mensching schwierig, sperrig. Wer das Buch gelesen hat, wird ihm widersprechen dürfen.

Scharfsinnig beobachtet und pointiert notiert in einer verständlichen, bis heute frisch gebliebenen Sprache, langweilen Klemperers Zeit- und Menschenbeschreibungen nicht eine Sekunde. Zumal der Leser durch Christopher Clarks Vorwort, Wolfram Wettes Essay zur deutschen Revolution von 1918/19, hilfreiche Anmerkungen, Zeittafel, Personenregister und Fotos reichlich mit Zusatzwissen versorgt wird.

Auf dem Tisch, an dem Steffen Mensching sitzt, liegt an diesem Abend aber nicht nur das aktuelle Buch, um das es geht, in dem Klemperer die desaströse Lage nach dem Ersten Weltkrieg und das Scheitern der Münchner Räterepublik  schildert.

Ehe Mensching sich dem vergleichsweise schmalen München-Band zuwendet, liest er zunächst aus dem Schlussteil von Klemperers „Curriculum Vitae“, worin die Zeit bis 1918 beschrieben wird.

Auch die weiteren neben Mensching aufgetürmten Klemperer-Werke kennt das kundige Erfurter Publikum. Vor allem die Tagebücher 1933-45 „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“.

Mit deren Veröffentlichung 1995 wurde der 1960 in Dresden verstorbene Romanist Victor Klemperer, lange schon in Fachkreisen hochgeschätzter Autor des Standardwerks zur Sprache des Dritten Reichs „LTI“ (Lingua Tertii Imperii), posthum eine literarische Berühmtheit. Diese steigerte sich 1999 noch beträchtlich durch den frei nach den Tagebüchern entstandenen Fernseh-Vielteiler mit Matthias Habich in der Hauptrolle. Heute ist Klemperers Platz in der Literaturgeschichte unstrittig. Seine Tagebuchaufzeichnungen des Alltags unterm Hakenkreuz weisen ihn als einen herausragenden Chronisten seiner Zeit aus.

Das Revolutionstagebuch 1919, eine der interessantesten Neuerscheinungen des Jahres 2015, darf als ein kleiner, aber feiner Mosaikstein im Erzählkosmos von Klemperer gelten. Es ist, wie Mensching betont, ein eigenartiges Buch und gewiss kein klassisches Tagebuch. Die Herausgeber haben das Werk  aus zwei Teilen zusammengefügt: Zum einen sind es feuilletonistische Berichte, die Klemperer zwischen Februar 1919 und Januar 1920 in den Münchner Revolutionswirren verfasste und die in den „Leipziger Neuesten Nachrichten“ erschienen, sowie auch jene Texte, die die Redaktion auf dem Postweg nie erreichten.

Zum anderen werden die Zeitungsbeiträge kontrastiert durch Klemperers bislang  unveröffentlichte Erinnerungen von 1942, in denen er Rückschau auf die Münchner Zeit hält – authentisch, ohne nachträgliche Veränderung, gar Schönung. Das führt zu gelegentlichen Dopplungen, die aber kaum stören.

Mensching liest von Klemperers Fahrt im Dezember 1918 nach München, wo sich der Kriegsfreiwillige preußisch korrekt von Krieg und Militär abmelden will. Alles, was folgt, insbesondere das revolutionäre Geschehen, erlebt Klemperer als eine Art Gaudi, als Farce, als Theater –  freilich mit blutigem Ende.

Am 17. Januar 1920 schreibt er unter der Überschrift „Münchener Tragikomik“ davon, wie er die Privatbibliothek des ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner entdeckt. Und fasst seine Münchner Eindrücke zusammen: „Vom Februar bis zum Mai 1919 kommt München vor allem nicht aus der Tragikomik heraus: alles ist jämmerlich, und alles ist blutig, man möchte immer weinen und lachen in einem.“ Wie schade, notiert Klemperer am Ende, dass man nicht gleichzeitig bloßer Zuschauer sein könne, wenn man Deutscher sei.

Wie die Zeitung, für die er schreibt, ist Klemperer von konservativer Beschaffenheit. Sein Geist ist ein scharfsinniger, seine Beobachtungsgabe eine journalistisch begnadete. Wenige Zeilen genügen ihm, um eine Person zu porträtieren oder eine Situation zu charakterisieren.

Aber wie liest sich das fast 100 Jahre später? Mit dem Wissen von heute? Steffen Mensching, der viele Sichten des konservativen Weltenbeobachters Klemperer nicht teilt, dessen Blick auf die Revolution und die Revolutionäre für einseitig hält, als Lektüre zum Ausgleich Erich Mühsam empfiehlt,  findet es andererseits erfrischend zu lesen, dass jemand so borniert sein könne.

Das alles aber, so Mensching, nehme den authentischen Texten des großen Stilisten Klemperer nichts von ihrer Wichtigkeit. Es sei eine große Leistung.

„Da ist großes Menschentum!“ setzt Mensching mit seinem letzten Satz des Abends noch einmal ein dickes Ausrufezeichen für Victor Klemperer. Man hätte gern noch mehr gehört. Langer herzlicher Beifall des zahlreich erschienenen Publikums.

Steffen Mensching liest Victor Klemperer

Fotos: Holger John

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