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Erfurter Herbstlese
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Okt. 23 2017

Philosophische Matinee: Wilhelm Schmid stellt „Das Leben verstehen“ im Atrium der Stadtwerke vor

Seelsorge für die Seele

Wilhelm Schmid lehrt als Philosoph an der Erfurter Universität (Foto: Thüringer Allgemeine).
Wilhelm Schmid lehrt als Philosoph an der Erfurter Universität (Foto: Thüringer Allgemeine).

Von Sigurd Schwager

Dieses Mal muss der Sonntagsbraten noch etwas warten. Und das ist auch gut so, denn die Herbstlese lädt zu einer philosophischen Matinee, auf der erlesene geistige Kost gereicht wird. Das Menü, das Wilhelm Schmid kreiert hat und nun dem geneigten Publikum im Atrium der Stadtwerke serviert, heißt Lebenskunstphilosophie.

Allerdings kennt der Duden ein solches Wort nicht. Stellt man jedoch das kleine Sprachungetüm ins Netz, landet man sogleich bei www.lebenskunstphilosophie.de und damit beim Herbstlese-Gast Schmid. Es begegnet uns ein Mann, für den die Philosophie als Streben nach Erkenntnis über den Sinn des Lebens, und Lebenskunst als Fertigkeit, das Leben zu meistern, untrennbar verknüpft sind.

Wie zuvor für den Soziologen Hartmut Rosa und den Verhaltensforscher Karsten Brensing ist auch für den Philosophieprofessor Wilhelm Schmid der Herbstlese-Auftritt 2017 ein Heimspiel. Hier in Erfurt hat der gebürtige bayerische Schwabe vor 20 Jahren mit der Grundlegung zu einer Philosophie der Lebenskunst habilitiert, und an der hiesigen Universität lehrt er heute als außerplanmäßiger Professor Philosophie.

Zu seinen Stärken gehört die Gabe, über die eher wenige Gelehrte verfügen: nämlich andere Menschen an ihrem Denken in verständlich teilhaben zu lassen. Mehr als 20 Bücher, darunter so mancher langlebige Bestseller, belegen das. Sie handeln zum Beispiel vom „Glück“ und vom „Unglücklich sein“, von der „Liebe“ und von der „Gelassenheit“, „Von den Freuden der Eltern und Großeltern“ und „Vom Nutzen der Feindschaft“.

Sein jüngstes Werk „Vom Schenken und Beschenktwerden“ stellt er in Erfurt nicht vor, obwohl das acht Wochen vor Weihnachten wirklich gutes Timing gewesen wäre. Schmid spricht stattdessen über sein zuvor erschienenes und zeitlos aktuelles Buch „Das Leben verstehen“ – Untertitel: „Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers“. Auf Bitten von Ärzten hat Schmid Sprechstunden im Krankenhaus der Kleinstadt Affoltern südwestlich von Zürich angeboten, insgesamt zehn Jahre lang. Davon erzählt das Buch und Schmid jetzt seinem Erfurter Publikum.

Was aber soll eigentlich ein Philosoph in einem Krankenhaus, wo es um todernste Dinge geht und nicht nur um ein bisschen Denken? Das hat sich damals Schmid gefragt. Doch es ging überraschend gut, immer wieder gut. Sein Gesprächsangebot, so der Philosoph, sei von Anfang überlaufen gewesen. Was den Patienten daran gefallen habe? Die Antwort eines Schwerkranken: „Sie bringen uns geistige Nahrung.“ 

Der Philosoph als geistiger Nahrungsmittelvertreter, als Vertreter von Gedanken. Das, sagt Schmid, habe ihm gut gefallen. Im Gespräch entstünden immer wieder Gedanken, die es ohne dieses Gespräch nicht gegeben hätte.

Schmid stellt in Erfurt die Frage, die er sich auch im Buch stellt: „Was ist dran an der Philosophie, die doch niemanden behandeln, niemanden im engeren Sinne therapieren kann? Sie kann helfen, das Leben besser zu verstehen, indem sie der Besinnung Raum gibt, also der Frage nach Sinn, um allein oder gemeinsam mit anderen nach Antworten zu suchen."

Ein säkularer Seelsorger bietet im Geiste des alten Sokrates Sorge für die Seele an. Nach ein paar Jahren in Affoltern, berichtet Schmidt, habe sich ihm die anfänglich zweifelnde Frage genau andersherum gestellt: „Wie kommen eigentlich all die vielen Krankenhäuser ohne Philosophen aus?“ Es sei für ihn eine Entdeckung gewesen, dass die Philosophie Menschen dabei behilflich sein könne, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen. Und dass diese Hilfe darin bestehe, ein Verständnis des Lebens zu gewinnen, dass es ermögliche, die Situation einzuordnen und eine Haltung dazu zu finden.

Und was lernt das Publikum noch aus dieser Matinee? Dass Glück oft Zufall und nicht das Wichtigste im Leben ist, sondern Sinn. Dass es kein Wohlgefühl auf Dauer gibt, wir Probleme und Unzufriedenheit brauchen. Dass uns all das wertvoll dünkt, was begrenzt ist. Schmids Fazit seiner Schweizer Krankenhaus-Erfahrungen: „Selten in meinem Leben hatte ich so sehr das Gefühl, gebraucht zu werden, selten erfuhr ich so viel über mich, meine Möglichkeiten und Grenzen.“ Gut, dass er uns als Leser und Zuhörer zu den Menschen in den Raum des Innehaltens und Nachdenkens mitgenommen hat.

Auf den spannenden Vortrag im Atrium folgen die Fragen. Ob es denn nun Philosophen im Krankenhaus gäbe, lautet die erste. Die Antwort ist so desillusionierend wie oft das Leben selbst: Nein, in der Schweizer Klinik wurde kein Philosoph eingestellt. Aber immerhin biete die Wiener Universität ein entsprechendes Zusatzstudium an, dass vor allem Ärzte nutzen.

Dann die Frage: Was, wenn ein Kind stirbt? Er habe nicht für alles Antworten, sagt der Philosoph. Man könne nicht jeden Zufall, jedes Unglück ausschalten.

Ob sie sich darauf einstellen müsse, später als Taxifahrerin zu arbeiten, fragt eine Philosophiestudentin. Der Professor beruhigt sie mit guten Berufschancen: Strukturiert denken zu können, das sei eine von Unternehmen sehr gesuchte Eigenschaft bei ihren Mitarbeitern.

Und dann noch – ganz wichtig für „Das Leben verstehen“ – die Frage, ob und welche Hobbys der Professor habe. Lächelnd nennt der Vater von vier Kindern an erster Stelle: die Gattin. Ach ja, und er trinke jeden Tag einen Espresso, nicht zuhause, sondern im Café.

Mit rauschendem Beifall klingt die Matinee aus. Der Berichterstatter denkt beim Hinausgehen, ob man einen Sinn darin suchen muss, dass ausschließlich Frauen dem Philosophen Lebenskunst-Fragen gestellt haben.
 

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