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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 04 2020

Der Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb 2020 ist Geschichte

Kreißsaal kommt von Kreischen

Chiara Fleischhacker verarbeitete für ihren Wettbewerbsbeitrag Eindrücke aus dem Kreißsaal.
Chiara Fleischhacker verarbeitete für ihren Wettbewerbsbeitrag Eindrücke aus dem Kreißsaal.

Von Michael Helbing

Jetzt ist ihr alles klar. „Kreißsaal kommt von Kreischen“, lautet die Akuterfahrung der Erzählerin. „Ich trage meinen Teil dazu bei: Ahhhhhhhh. Dachte ich noch vor 10 Minuten, Wehen (die kommen übrigens von Wehtun) seien gar nicht so schlimm, verfalle ich nun in einen weiblichen Urzustand.“ Und sowas ist nicht schön. Der Mann an ihrer Seite, in den sie sich krallt, guckt jedenfalls: „geschockt.“

Kurz, nachdem Chiara Fleischhacker im Mai ein Mädchen gebar, schrieb sie diese „Minuten“ nieder. Ohne den Erfurter Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb, den inzwischen die Herbstlese ausrichtet, gäbe es den Text nicht.

Dafür wurde er verfasst, ohne dass sich die 27-Jährige was ausrechnete. Eher ist sie überrascht, für einen der drei mit jeweils 300 Euro dotierten Hauptpreise ausgewählt worden zu sein, „weil der Text ja schon sehr provokativ ist“.

Fleischhacker zeichnet ein alles andere als romantisches Bild einer Geburt. Ironisch beschreibt sie, was ist. Die letzten Tage und Stunden einer Schwangerschaft sind deren längste. Das zieht sich ewig hin, während es ständig zieht. Kommen die Wehen in Zehn-Minuten-Abständen, ist es bald soweit, aber es geht noch nicht los. Fleischhacker zählt von da an in einem lakonischen Minuten-Countdown runter – bis die Vagina „überrascht über ihre Premiere als Ausfahrt“ ist.

„Es war sehr schön, einen Text zu schreiben, der für sich steht und nicht noch tausend Schritte durchlaufen muss“, sagt sie. Denn üblicherweise verfasst Fleischhacker, die früher viele Gedichte schrieb, heute Exposés, Treatments, Drehbücher. Die Autorin und Regisseurin studiert an der Filmakademie Baden-Württemberg und arbeitet gerade am Diplom: einem Langspielfilm. In Kassel geboren als Tochter aus Erfurt stammender Eltern, ging sie mit 14 in deren Heimat: auf die Sportschule zunächst. Aufs Königin-Luise-Gymnasium folgten Freiburg, Berlin, Ludwigsburg sowie Paris, von wo sie im Juli 2019 zurückkehrte.

Mit ihr hat die sechsköpfige Jury eine Debütantin des Wettbewerbes zur Preisträgerin gekürt, unter insgesamt 66 von der Herbstlese anonymisierten Einsendungen junger Autoren zwischen 15 und 35. Das Höchstalter hat nun Steve Kußin erreicht. Der Autor, Poetry Slammer und Schauspieler aus Jena, 2014 Stadtschreiber in Ranis, brachte es bereits drei Mal zum Hessus-Preisträger: mit „Die Trägheit des Herzens“ 2011, „Tiramisu“ 2013 und „Das Ende der Leitung“ 2015.

In „Tiramisu“ beschloss einer ohne ersichtlichen Grund, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Diesmal geschieht dergleichen unfreiwillig, aus nichtigen Gründ: „Es ist nur eine Fliege, sagte seine Frau, und weil sie es zum tausendsten Mal sagte, erschlug er sie. Mit dem Krug, mitten auf den Kopf, dass es knackte. Die Fliege störte das nicht, die Fliege flog. Seine Frau störte das auch nicht, seine Frau war tot.“

So beginnt „Die Fliege“, eine sehr unschuldig und saulustig daherkommende Kurzgeschichte über Schuld, die Kußin bereits in der Lesebühne „Sebastian ist krank“ vorstellte, die er im Café Wagner in Jena einst initierte. Nun bringt sie ihm seinen vierten (und definitiv letzte) Hessus-Preis ein.

Der dritte im Bunde der Hauptpreise ist Patrick Würfel (25), ebenfalls aus Jena, wo er Jura studiert. Seit Kindertagen verfasst er Geschichten und Anekdoten, seit dem Sommer 2019 nimmt er an Wettbewerben teil. Seine „Zirruswolken“ heimsen nun ebenfalls einen Hauptpreis ein. Die Geschichte beschreibt laut Würfel den zum Scheitern verurteilten „Versuch, sich von den Krisen dieser Welt abzuschotten und isoliert von gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklungen zu existieren“.

Es geht um eine Handvoll Leute in einem Haus am Meer, durch dessen Weinkeller „eine Tür über die Klippen zum Strand führte.“ Dieser Keller funktioniert wie ein Zeittunnel des Lebens, zwischen innerer und äußerer Realität. „Im August“, so endet das, „war Jochen nach einem Parasite-TV-Abend noch einmal in den Keller gegangen. Seitdem hatten sie ihn nicht mehr gesehen. Die Weinflaschen, die noch im Kühlschrank lagerten, würden bis in den September reichen. Im Herbst würden sie weitersehen.“

Die aus Erfurt stammende, in Jena lebende Germanistin Uschi Schmidt (inzwischen 36), die 2011 mit „Cognac – aus dem Tagebuch einer Vatersöhnin“ bereits Preisträgerin des Hessus-Schreibwettbewerbes war, erhält diesmal für ihren gezielt geschossenen „Waldfriedensbruch“ einen der mit 100 Euro prämierten Förderpreise. Ebenfalls derart ausgezeichnet werden die Missbrauchsgeschichte „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ von Jasmin Lincke aus Jena (20) sowie „Zwischenbei“, die dichten Beobachtungen eines Tagträumers von Noah Zepter aus Erfurt (18).

Michael Helbing war Mitglied der Wettbewerbsjury. Sein Beitrag erschien zunächst im Feuilleton der "Thüringer Allgemeine".

Das Video mit den Preisträgern ist auf „Caroline TV“ zu sehen, dem Youtube-Kanal der Erfurter Herbstlese.

Eobanus-Hessus-Schreibwettbewerb 2020

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