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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 15 2013

Eine phantastische Reise

Ulrich Tukur und Natascha Petrinsky verzauberten ihr Publikum im Atrium der Stadtwerke.
Ulrich Tukur und Natascha Petrinsky verzauberten ihr Publikum im Atrium der Stadtwerke.

Vor Jahren drehte Ulrich Tukur in der Picardie. Der Film „Seraphine“ kam 2008 in die Kinos. In Deutschland konnte die phantastisch wahre Geschichte das breite Publikum nicht erreichen. Anders in Frankreich. Dort avancierte das Drama, das die Geschichte der Séraphine Louis erzählt, 2009 zum großen Gewinner des nationalen Filmpreises „César“. Die historische Figur der Séraphine, die als Dienstmädchen arbeitet und als Séraphine de Senlis zu einer der einflussreichsten naiven Malerinnen Frankreichs aufsteigt, und der Drehort lassen den deutschen Schauspieler nicht mehr los.

Die Inspiration traf ihn am Chateau Montgeroult, verriet Ulrich Tukur, der im Film Séraphines Dienstherren und Entdecker Wilhelm Uhde gibt, dem NDR. „Ich bin an einem dunklen Nachmittag eingestiegen in den gesperrten Teil des Schlosses nach Drehschluss und sah diese alten Möbel aus unvordenklichen Zeiten. Alte Gemälde und zusammengebrochene Tische und Stühle. Und komme in eine riesige Bibliothek und auf einem Sofa sitzt ein kleines Kind mit einer ganz blassen Haut und schaut auf einen kleinen Fernsehapparat. Ich hab gedacht, das ist ein Kind aus dem 18. Jahrhundert, das durch ein Loch in unsere Zeit guckt. Das hat mich so beeindruckt, da habe ich gedacht: Da mache ich was draus: Wenigstens eine Kurzgeschichte. Irgendwas.“

Aus dem irgendwas wurde eine Novelle. Im Atrium der Stadtwerke stellt Tukur „Die Spieluhr“ den Besuchern der Herbstlese vor. Dort, wo sonst ein nüchternes Podium mit weißen Wänden steht, ist eine kleine Bühne aufgebaut. Mit samtenem Vorhang, einem barocken Sessel und einem Klavier.

Tukur springt auf die Bühne, begrüßt sein Publikum und erzählt von der Entstehungsgeschichte seines zweiten Buches, von Séraphine, Uhde und dem Schloss. Er spricht von seiner Liebe zu den Märchen Wilhelm Hauffs, Theodor Storms und E.T.A. Hoffmanns und von der Liebe zu schönen Büchern. Deshalb ist „Die Spieluhr“ auch besonders schön gestaltet; ein feiner Leineneinband, goldene Schrift und festes Papier geben ihr den nötigen Hauch der guten, alten Zeit und machen den Band im Buchladen zwischen all dem bunten Papier erkennbar.

Der Autor drückt es direkter aus. Dieses Buch „ist ein letzter analoger Paukenschlag, bevor Gutenberg ganz verpixelt wird“, ruft er selbstbewusst ins Publikum. Ach, dieser Tukur, was für ein Tausendsassa; großartiger Schauspieler, feinsinniger Phantast, so sympathisch auf der Bühne wie daneben. Kann ein Abend mit ihm eigentlich schiefgehen?

Dieser nicht. Obwohl der schreibende Tukur seinem Publikum viel abverlangt. Das halbe Buch schwirrt von ausländischen Namen, das Personal wechselt, Raum und Zeit verlieren ihre Bindung. Die FAZ formuliert es so: „Wiederholt zweifelt dieser Erzähler selbst, ob das Geschehen noch realistisch zu erklären oder bereits wunderbar sei, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum verfließen.“

Doch Ulrich Tukur überstrapaziert sein Publikum nicht. Er schenkt ihm Momente der Erholung und des Atemholens. Er macht das mit Musik – den Schauspieler am Klavier begleitet Natascha Petrinsky. Die Mezzosopranistin singt Barock-Arien, und wie. Die zarte Kraft ihrer Stimme singt all das Metall und Glas, den ganzen Beton der profanen Umgebung einfach weg. Die verzauberten Zuhörer müssen dafür noch nicht einmal ihre Augen schließen. Und so endet der Abend mit ein paar Tönen von ihr, irgendwo dahinten, im Wald.

Der Künstler weiß, dass er sein Publikum gefordert hat. „Sie waren sehr tapfer. Vielen Dank“, sagt Ulrich Tukur nach fast anderthalb Stunden. Die so Gelobten geben den Dank mehr als artig zurück, mit warmem Applaus.

 

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