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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 03 2022

Der großer Erzähler Heinz Strunk stellt seinen neuen Roman vor

Nightmare in Niendorf

Begnadeter Entertainer: Heinz Strunk wusste sein Erfurter Publikum wieder einmal zu begeistern.
Begnadeter Entertainer: Heinz Strunk wusste sein Erfurter Publikum wieder einmal zu begeistern.

Von Sigurd Schwager

Dieser Gast taugt bei seinem dritten Herbstlese-Auftritt nach 2005 und 2018 für ein kleines literarisches Ratespiel: Wer, so lautet die Frage, hat es als einziger mit seinen Büchern sowohl 2021 als 2022 auf die höchst erlesene 20er-Favoritenliste für den Deutschen Buchpreis geschafft? Die richtige Antwort kann natürlich nur heißen: Heinz Strunk.

Der Mann ist also ziemlich gut drauf und sprüht auch im Netz mit „Heinz Strunk 2022 REBUILDING SUPERFILE“ vor heiterer Mitteilungsfreude: „Nach langen Monaten selbstgewählter Eremitage ist der gleichermaßen charismatische wie bescheiden-sympathische Großkünstler Herr Heinz Strunk (‚plane ein Ziel und multipliziere es mit zehn‘) back on da roof; geläutert, gestärkt, sublimiert macht er das, was er immer noch am besten kann: einen Raum (Location) innerhalb von Sekunden füllen (Präsenzanwesenheit)...“

Und wie immer gibt es von ihm auch für das neue Buch „Ein Sommer in Niendorf“ ein digitales Darum geht‘s: „Der Roman“, erläutert sein Verfasser, „erzählt eine Art norddeutsches ‚Tod in Venedig‘, nur sind die Verlockungen weniger feiner Art als seinerzeit beim Kollegen aus Lübeck.

Ein bürgerlicher Held, ein Jurist namens Roth, begibt sich für eine längere Auszeit nach Niendorf: Er will ein wichtiges Buch schreiben, eine Abrechnung mit seiner Familie. Am mit Bedacht gewählten Ort – im kleinbürgerlichen Ostseebad wird er seinesgleichen nicht so leicht über den Weg laufen – gerät er aber bald in die Fänge eines trotz seiner penetranten Banalität dämonischen Geists: ein Strandkorbverleiher, der Mann ist außerdem Besitzer des örtlichen Spirituosengeschäfts.

Aus Befremden und Belästigtsein wird nach und nach Zufallsgemeinschaft und irgendwann Notwendigkeit. Als Dritte stößt die Freundin des Schnapshändlers hinzu, in jeder Hinsicht eine Nicht-Traumfrau – eigentlich. Und am Ende dieser Sommergeschichte ist Roth seiner alten Welt komplett abhandengekommen, ist er ein ganz anderer."

Das Buch ist Strunks zwölftes und erwartbar das glatte Gegenteil von Dutzendware. Es fasziniert nicht nur die Buchpreis-Jury, sondern mit ganz wenigen Ausnahmen die Heerschar der Literaturkritik. Sie konstatiert herausragende Figurenzeichnung, großartig erzählte Abstürze und Peinlichkeiten, die Kunst, verkommenste und trostloseste Milieus realistisch nachzuzeichnen, ohne sich über sie zu erheben oder sie zu parodieren. Die geneigte Leserschaft müsse sich auf einen Spagat zwischen Witz und Brechreiz einstellen. Der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung nennt ihn feinsinnig einen Meisterbeschreiber des Abstiegs, der es mit diesem Roman endgültig auf die Shortlist für die Thomas-Mann-Medaille geschafft habe.

Die dicht gefüllte Aula des Erfurter Ratsgymnasium, wo Heinz Strunk schon 2018 sein „Teemännchen“ vorgestellt hat, ist nach Corona-Abstinenz erst die vierte Station einer langen Lesereise, die am 18. März kommenden Jahres in Jena enden wird. Das Herbstlese Publikum empfängt den Dichter, Musiker, Schauspieler und gelegentlichen Politiker am Vorabend des Einheitsfeiertages mit lebhaft-herzlichem Beifall. Bei den Begrüßungsworten empfindet es der Berichterstatter als wohltuend, dass Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig nicht vom norddeutschem Tod in Venedig spricht, ohne dessen Erwähnung kaum eine Rezension auszukommen scheint.  Vielmehr greift sie ein Buch-Zitat auf und lädt zu "Nightmare in Niendorf" ein.

In den folgenden zwei Stunden beweist Heinz Strunk, der im Mai 60 geworden ist, einmal mehr, was ihn von vielen anderen Autoren, die ebenfalls gut schreiben können, unterscheidet. Er kann auch intelligentes Entertainment, Cliffhanger inklusive, vermag komisch und selbstironisch zu sein, und musikalisch ist er sowieso. Den ersten fröhlichen Zwischenapplaus gibt es, als der Vorleser für seinen traurigen Romanhelden namens Roth ins Schlagerfach zu Rocco Granata wechselt und  dessen Marina von 1959 variiert: „Savina, Savina, Savina./Dein Chic und dein Charme, der gefällt./Savina, Savina, Savina,/Du bist ja die Schönste der Welt./Wunderbares Mädchen..."

Später am Abend wird er dann noch das Erhoffte und Erwartete tun, nämlich zu seiner Flöte greifen („Keine Angst, ich beherrsche das Instrument!“ und „Marina, Marina, Marina“ so herzerfrischend intonieren, dass das Publikum am Ende die kühle Aula klatschtend, pfeifend und Bravo rufend in einen aufwärmenden Popkonzertsaal verwandelt. Ein Auftritt wie ein Buchtitel von Heinz Strunk: „Es ist immer so schön mit dir.“

Dem Herbstlese-Berichterstatter bleibt nur noch, seinem literarisch hochgebildeten Stuhlnachbarn beizupflichten. Ja, „Ein Sommer in Niendorf“ wäre auch ein würdiger Buchpreis-Champion gewesen.
 

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