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Erfurter Herbstlese
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Okt. 08 2014

Martin Walsers Tagebücher 1979 bis 1981

Schreiben und Leben

Martin Walser auf der Bühne des Kaisersaals.
Martin Walser auf der Bühne des Kaisersaals.

                        Von Sigurd Schwager
 

„1.1.1979. Am Zoll. Es begann mit den Impfpapieren der Tiere. Beide abgelaufen. Machen Sie mal hinten auf. Haben Sie Fleisch dabei? Der Ton verriet, wir waren aufgefallen. Nein, kein Fleisch. Machen Sie mal hinten auf. Von dort quollen so viele Plastiktüten und Schuhe und einzelne Dosen hervor. Große Hunde, kleine Katzendosen. Wie viel wir davon hätten. Je vier oder fünf. Ja, sollen wir das Hunde- u. Katzenfutter verzollen?“


Mit der Beschreibung dieser grotesken Szenerie an der Schweizer Grenze beginnt Martin Walsers  „Schreiben und Leben. Tagebücher 1979-1981“, und eben damit eröffnet er auch seine jüngste Lesung im Kaisersaal. Mit Kind und Kegel, mit Hund und Katze ausgeliefert einer Beamtenmaschinerie − da hat er sogleich die erheitert mitleidenden Zuhörer solidarisch an seiner Seite.

 
Martin Walser, ganz ohne Zweifel einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren unserer Zeit, ist längst ein Stammgast  der Erfurter Herbstlese geworden. Zuletzt stellte er im Oktober 2012 im Kaisersaal „Das dreizehnte Kapitel“ vor. Es war ein glänzender Auftritt damals, und ein solcher wird es auch diesmal. Denn Martin Walser ist nicht nur ein begnadeter Schreiber, sondern auch mit 87 immer noch ein wunderbarer Vortragskünstler des eigenen Wortes. Das zahlreich erschienene Publikum genießt es − und Walser tut dies auch. Hinterher, nach einem intensiven Abend,  wird der Weitgereiste von diesem Erfurter Publikum als einem ganz besonderen sprechen.


Er werde querbeet lesen, sagt Walser. Doch da ist natürlich kein Zufall im Spiel. Viel Zeit hat sich der Autor für die Auswahl genommen. Im Ergebnis gewinnt  der Zuhörer einen ziemlich genauen Eindruck, was er von diesen 700 Seiten (inklusive Anmerkungen) erwarten  darf: Werkstatt, Fundgrube, Alltägliches und literarische Vorgriffe, Essayistisches, Aphoristisches und Lyrisches, ausführliche Berichte eines Reisenden. Gute Kollegen, böse Kollegen, Unseld, der Verleger. Marcel Reich-Ranicki sowieso.  Eben „Schreiben und Leben“. Wenn er wissen wolle, was er denke, sagt Walser, müsse er es schreiben.  Das sei eine Lebensart von ihm geworden.


Man kann dem Moderator und lebenslangen Walser-Fan Dietmar Herz nur zustimmen: Der Leser erhält mit diesen Tagebüchern ein bedeutendes Stück Literatur von einem Mann, der viel austeilt und viel einstecken muss, den Ängste plagen, der noch im größten Erfolg immer wieder am Gelingen der Dinge zweifelt.


Natürlich dürfen an diesem Herbstleseabend, wir schreiben schließlich den 7. Oktober, Szenen nicht fehlen, die in und von der DDR handeln: im Zug in Probstzella, die Leipziger Buchmesse, die Stätten von Nietzsche, den Walser für den größten Schriftsteller aller Zeiten hält, Weimar mit Goethe & Schiller, Eckermann und Wulf Kirsten. Und manchmal passt  die ganze DDR sogar in einen einzigen Satz.  Wenn der Autor nämlich am 17. 3. 1981 die Malerin Gudrun Brüne zitiert: „Normal geht bei uns nichts, aber als Ausnahme geht alles.“


Martin Walser, dessen Glaube an die Endlichkeit der deutschen Teilung im Tagebuch zu besichtigen ist, liest auch aus der ebenfalls in dem Band enthaltenen  Rede zur Eröffnung einer Ausstellung mit Zeichnungen von Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz. Titel: „Auschwitz und kein Ende“. Der erste Satz ist unmissverständlich und geht so: „Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen.“


 Später, im Gespräch mit Dietmar Herz, wird  Martin Walser sagen, es sei "absoluter Unsinn", dass er 1998 in Frankfurt am Main in seiner umstrittenen Rede in der Paulskirche einen Holocaust-Schlussstrich ziehen wollte. Auschwitz und kein Ende heiße: Damit müssen wir leben.

Die letzten Worte, die Walser im Erfurter Kaisersaal aus seinem Buch vorträgt, lauten:

„Es hat sich ausgezählt.
Ein Dunkel hat die Welt.
Man hört die Schnurren pfeifen.
Es räuspert sich der Groll.
Der Schmerz fährt neue Reifen.
Jetzt kreischt, wer singen soll.
Adieu, mein Tag. Ich leg die Brille ab
und pflanz‘ eine Antenne auf mein Grab.
Gute Nacht, Rautendelein, gute Nacht, Marie,
der Tod macht aus uns allen Phantasie.“

Der Tod. An dem Tag, da Walser, 87, in Erfurt zu Gast ist, stirbt in Hamburg ein anderer ganz Großer der deutschen Literatur mit 88 Jahren: Siegfried Lenz. Am Tag darauf liest man in der Zeitung die Walserschen Worte: „Siegfried Lenz sei gestorben. Da denke ich natürlich: Warum er und nicht ich? In einer andauernd aus allen Meinungsfugen krachenden Welt wird der unwillkürlich zu einem Monument.“


Möge Martin Walser bald ein sechstes Mal nach Erfurt kommen. Mit neuen Texten.

Martin Walser

Fotos: Holger John

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