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Erfurter Herbstlese
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April 30 2015

In St. Martin singt Pierre Stutz ein Loblied auf das Glück der Unvollkommenheit

Mut zur Lücke

Pierre Stutz las in der Bildungsstätte St.Martin nicht - er hatte sich statt für eines seiner vielen Bücher für einen Vortrag entschieden.
Pierre Stutz las in der Bildungsstätte St.Martin nicht - er hatte sich statt für eines seiner vielen Bücher für einen Vortrag entschieden.

Burnout ist in den letzten Jahren immer populärer geworden. Nicht zuletzt der Glaube, dass vor allem Top-Manager von der Modekrankheit betroffen sind, gibt ihr einen gewissen schicken Ruf. Wer sich indes in einer Klinik umschaut, in der Betroffene über Monate behandelt werden, wird Vertreter ganz anderer Berufsgruppen in den Therapierunden vorfinden: Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten, Ärzte und eben auch viele Pfarrer und Priester.

Allen diesen Berufen ist eines gemeinsam: Sie erfordern maximales persönliches Engagement bei schwindender gesellschaftlicher Anerkennung. Wer dazu neigt, sich dabei selbst immer hintanzustellen, wer es, grob ausgedrückt, mit der Nächstenliebe übertreibt und sich selbst dabei vergisst, kann in große Schwierigkeiten geraten.

Pierre Stutz hat das wohl tausendfach erlebt. Er kann, was da in uns vorgeht, nur viel besser ausdrücken. Seine Bücher sind Bestseller. Sie treffen einen Nerv, vielen sind seine Zeilen aus dem Herzen oder, so sie daran glauben, aus der Seele geschrieben.

Aber was heißt das, wenn die Seele krank ist. Die meisten Menschen sehnen sich danach, etwas Geheimnisvolles, Höheres, Göttliches im eigenen Leben zu spüren. Manche meinen, etwas läuft im Gehirn nicht gut, andere sehen das Herz in Mitleidenschaft, viele glauben an Kraftzentren im Körper, an Chakras und Auren und an vieles mehr. Ganz schön mystisch, das Ganze. Aber was ist das, Mystik?

In Erfurt müssten sie es wissen, lebte doch einer der größten Mystiker der Weltgeschichte unter ihnen. Meister Eckhart, den meisten als Namenspatron einer Straße wohl bekannt, und seine Lehren sagen nur noch wenigen Eingeweihten etwas. Eine schwierige Materie, zumal die Kirche selbst oft nicht so recht wusste, wie sie den Mann nun behandeln sollte: Als Vordenker oder besser als Ketzer? Da ist der Meister aus Erfurt nicht allein. Von der Mystik hin zur Esoterik scheint es nur einen Katzensprung, und viele Theologen würden sie wohl auch heute am liebsten in dieser Ecke sehen.

Für Pierre Stutz war die Mystik indes eher ein Befreier. Zwar beschäftigte er sich während des Studiums auch mit mystischen Schriften und ihren Verfassern, doch war ihm das damals eher suspekt. „Die Mystiker erschienen mir immer kurz vor dem Abflug, ich aber brauche Bodenständigkeit.“ Anders die Situation nach seinem Zusammenbruch; jetzt las er mit ganz anderen Augen, fand er bei den Mystikern des Mittelalters, aber auch bei den wenigen der Jetztzeit, Trost und Zuspruch, wurden sie ihm zum Quell neuer Lebensenergie.

Wobei er auch in Erfurt nicht übermäßig versucht zu erklären, was unter Mystik nun wirklich zu verstehen ist. Er nimmt Zuflucht beim griechischen „myein“ – die Augen geschlossen zu halten, um in sich schauen zu können. Es geht ihm um ein Innehalten, darum, die eigene Mitte und Balance wiederzufinden. Auszubrechen aus dem ewigen Hamsterrad des Alltag, nicht immer noch mehr zu eilen, um letztlich doch nur wieder zu spät zu kommen.

In seinem Vortrag stellt Pierre Stutz viele Fragen. Etwa: „Was bleibt von mir, wenn ich mich nicht nur durch Leistung definieren kann?“. Und er versucht, sie zu beantworten. Dabei bedient er sich der „Begleitung zeitloser Menschen“, will mit ihnen zusammen „Mut machen zur Unvollkommenheit“. Was nicht heißen soll, in Passivität und falscher Demut zu versinken. Pierre Stutz verlang nicht mehr als eine achtsame, beherzte Teilhabe am Leben, denn „unsere Welt braucht beherzte Männer und Frauen, das können wir nicht dem kleinen Prinzen allein überlassen.“ Später wird er noch deutlicher: „Man kann nicht ein Leben lang auf ein Wunder warten – oder auf eine außerirdische Erleuchtung.“

Er nennt an diesem Abend so viele Namen – von Teresa von Avila bis zu Hieronymus, von Etty Hillesum bis zu Dorothee Sölle, von Viktor Frankl bis zu weiß Gott wem –, zitiert so viele Texte, dass sie hier gar nicht wiedergegeben werden können. Es ist die komprimierte Kraft seines Lebens, seiner Erfahrung und seines Glaubens.

Die Menschen im Saal hören den humorvollen Vortrag gern, sie lachen und sie schweigen, ja sie lassen sich auch auf eine kleine Meditation ein. Über diesem Abend liegt damit auch eines: Heilung. So klingt das indianische Sprichwort, das Piere Stutz gebraucht, auch noch lange auf dem Heimweg nach: „Hätten unsere Augen keine Träne, hätte unsere Seele keinen Regenbogen.“

Zum Thema „Mystik-Boom“ gibt es ein 30-minütiges Radio-Feature bei NDR-Info, in dem auch Pierre Stutz zu Wort kommt.

Pierre Stutz in St. Martin

Fotos: Viadata

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