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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 30 2017

Gregor Gysi präsentiert gemeinsam mit Hans-Dieter Schütt seine Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“ (Teil 1)

Klamauk und politische Wahrheiten

Eingespieltes Team: Gregor Gysi und Moderator Hans-Dieter Schütt.
Eingespieltes Team: Gregor Gysi und Moderator Hans-Dieter Schütt.

Von Hanno Müller

Kaum vorstellbar, dass dieser Mann sich in der Rolle des ungeliebten Schmuddelkindes der wiedervereinten bundesdeutschen Politik befunden haben soll, mit der er rückblickend gern kokettiert. An diesem 2017er-Herbstlese-Sonntagabend ist Gregor Gysi (Die Linke) der Politstar, den viele sehen und hören wollen. Menschentrauben sowohl an der Restkarten-Kasse vor als auch beim Signieren nach der Veranstaltung. Nicht nur der große Saal im Erfurter Theater ist ausverkauft, wegen der Nachfrage wird das Gespräch in die benachbarte und ebenfalls voll besetzte Studiobühne übertragen.

Von so viel Popularität können andere Politiker nur träumen. Von der Gabe, seine Zuhörer mit kabarettistischen Wortkaskaden schwindelig zu quasseln und so um den Finger zu wickeln, ebenfalls. Da gerät selbst die Schilderung einer Bahnfahrt quer durch Deutschland zum Zwerchfell reizenden Slapstick. Mittlerweile scheint es egal zu sein, worüber Gysi spricht - die Hauptsache er spricht und zieht dabei vom Leder über die ihn immer wieder zu bissigen Seitenhieben und Uppercuts provozierende politische Konkurrenz.

Bei so viel Schärfe und - allerdings nicht ganz uneitler - Selbstironie wäre es manchem vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn das Thema, nämlich Gysis neue Autobiografie „Ein Leben ist zu wenig“, gar nicht zur Sprache gekommen wäre. Was die fast 600 Seiten - an denen der Journalist, Ex-Chefredakteur der Jungen Welt und Moderator des Abends, Hans-Dieter Schütt, mitgearbeitet hat - nicht verdient hätten. Autobiografisches oder Anekdotisches gab es von Gysi auch vorher schon. Nie hat er aber so tiefe und intime Einblicke in die (welt-)weiten und durchaus prominenten Verzweigungen seiner sich von Russland über Großbritannien bis Spanien erstreckenden, teils adligen, teils von kapitalistischem Pioniergeist und nicht zuletzt jüdisch geprägten Familienwurzeln gewährt.

Hinter aller Süffisanz schwingt da immer auch ein gewisser Stolz mit, etwa, wenn Gregor Gysi von den russischen Vorfahren spricht, die einst Moskau mit aufbauten und wichtiger gewesen seien als die Zaren der Romanows. Oder wenn er an den kapitalistischen Urgroßvater Anton Lessing erinnert, der in Russland Diesellokomotiven baute, in einem Werk, das es dort noch heute gibt. Die Lessings sind übrigens Gysis Vorfahren mütterlicherseits. Der Bruder von Gysis Mutter Irene, Gottfried Lessing, war vorübergehend mit Doris Lessing verheiratet - die Schriftstellerin ist damit Gysis Tante.

Hat ihm das in der DDR Privilegien verschafft? Oder der Vater Klaus Gysi, der in der DDR Kulturminister und später Botschafter in Italien war? Gysi verneint. Er sei weder im Regierungskrankenhaus behandelt worden, noch habe er den Vater in Rom besuchen dürfen. Ein Privileg sei es aber gewesen, dass im Haus der Eltern die Welt ein und ausging. Diese Erfahrung habe den Horizont geweitet und auch die Zeit nach der Wende erleichtert.

Zu besonders großer Form läuft der 69-Jährige immer dann auf, wenn er sich in die Niederungen des politischen Alltags und seine eigene Rolle dabei begibt. Wenn er erzählt, wie aus dem DDR-Anwalt, der Dissidenten und das Neue Forum vertrat, der gewitzte Frontmann der PDS/Die Linke und Verteidiger ostdeutscher Interessen wurde. Wie ihm anfangs der eiskalte Wind der Ablehnung ins Gesicht wehte, als „eine breite Mehrheit der Bevölkerung, eine breite Mehrheit der politischen Klasse und eine Mehrheit der Journalisten mich zutiefst hasste“ und er selbst sich ein ums anderen Mal mit beißender Schlagfertigkeit schadlos hielt. So etwa als man ihm in einer Talkrunde vorwarf, er habe ja keine Ahnung, und er spitz konterte, es gehe nicht um Ahnungen, sondern um Kenntnisse. Er sei eben Preuße und entsprechend stur - dass sie ihm zusetzten, habe ihn erst recht angestachelt.

Der Titel der Autobiografie „Ein Leben ist zu wenig“ ist Programm. Bis jetzt komme er auf sechs Leben - als Kind, als Student, als Anwalt in der DDR, dann der Übergang der Wendezeit und die zwei Leben in der wiedervereinten Bundesrepublik - das des Kampfes um Akzeptanz und das, nachdem er sich diese Akzeptanz erstritten hatte. Kein Zweifel, welches der beiden Letzteren das bessere gewesen sei: „Wenn ich nur die Wahl zwischen diesen beiden Leben in der Bundesrepublik hätte, würde ich noch einmal das zweite wählen, das erste war ungeheuer anstrengend“, gesteht er in Erfurt

Gysi wäre nicht Gysi, wenn er zwischen Klamauk und Wortwitz nicht immer wieder seine politischen Wahrheiten verstecken würde. Es sei das Verdienst der PDS/Die Linke, jene Ostdeutschen integriert zu haben, für die sich keiner interessierte. Weil nach der Wende die Arbeitslosigkeit vor allem im Osten hoch war, seien hier jetzt auch die Ängste besonders groß, was man am Zuspruch für die AfD sehen könne. Und: Vor der Wende habe es in der Bundesrepublik keine Partei links von der Sozialdemokratie gegeben, in anderen westeuropäischen Staaten aber schon. Erst das Hinzukommen des Ostens habe Deutschland europäisch harmonisiert.

Im Buch gibt es übrigens einen Epilog, der laut Gysi sein siebentes Leben einleitet. Er besteht nur aus einem einzigen Satz: „Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen.“

Hanno Müller ist Redakteur bei der „Thüringer Allgemeinen“ in Erfurt. Dieser Text von ihm ist am 31. Oktober 2017 im Feuilleton der Zeitung erschienen.

Gregor Gysi und Hans-Dieter Schütt im Theater Erfurt

Fotos: Holger John, Uwe-Jens Igel

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