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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 31 2013

Das Fass der Pandora

Simone Burdach und Clemens Meyer hatten offensichtlichen Spaß an ihrem einführenden Gespräch zum Roman "Im Stein". Foto: VIADATA
Simone Burdach und Clemens Meyer hatten offensichtlichen Spaß an ihrem einführenden Gespräch zum Roman "Im Stein". Foto: VIADATA

1998 wurde in Leipzig auf einen Mann geschossen, eine Größe im Rotlicht der Messestadt. Ein junger Mann liest davon in der Zeitung. Das ist doch was, daraus lässt sich doch etwas machen, denkt er. 15 Jahre später ist aus dem Impuls ein Roman geworden. Clemens Meyer stellt „Im Stein“ bei Hugendubel vor.

Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist kein Kurzstreckenlauf. Wer sich auf das über 500 Seiten starke Werk einlässt, muss Ausdauer, Geduld und eine gewisse Leidensfähigkeit zu seinen Grundeigenschaften zählen. 15 Jahre haben dem Roman eine Tiefe gegeben, die immer wieder zum Einhalten zwingt, zum Nachdenken. Zum Luftholen.

Doch bevor Clemens Meyer im Zusammenspiel mit Simone Burdach über die Werksgeschichte sprechen kann, müssen beide mit der Technik kämpfen. Hektisch werden Mikrofone getauscht, Boxen gedreht und Regler am Mischpult verschoben. Mit zunächst eher begrenztem Erfolg. So ist es, merkt Clemens Meyer zwischen zwei ekligen Fiepsern an, Energie fließt zu, fließt wieder ab; wie im Leben, wie in seinem Buch.

Was ist Realität, was ausgedacht? Wo hört die Geschichte auf, fängt die Geschichte an? Was ist real, was fiktiv? Der Autor bemisst den Wahrheitsgehalt so: Alles ausgedacht, alles Literatur, nur Kunst. Doch überall zwischen seinem Bühnenbild, seiner Auflage, quillt Leipzig hervor, aus allen Ritzen drängt, was die Stadt 1998 und ein Jahr später, dem Jahr der Sonnenfinsternis, bewegt und beschäftigt.

Clemens Meyer ist nicht ohne Selbstbewusstsein, eher im Gegenteil. Er weiß, was er geschaffen hat. Vor allem für sich selbst. Dieses Buch, diese wirklich lange Geschichte, ist die Erfüllung eines seiner Lebensprojekte. Nichts weniger, und früher, wie er einräumt, mit 36, als gedacht.

Der Leser profitiert davon. Clemens Meyer führt ihn in eine Welt, die verdrängt, vergessen, die unbekannt ist. Die Zwischenwelt, das Milieu, die Szene, das Rotlicht. „Im Stein“ zeigt die Schattenwirtschaft von innen, aus der Sicht der Huren, Türsteher, Taxifahrer; vor allem, als Teil der Ökonomie. Warum nicht in sündige Betten, in Laufhäuser investieren? Hauptsache, die Rendite stimmt.

So entsteht, wie blöd das auch klingt, ein Sittengemälde Ost. Ein ganz spezieller Aufbau Ost. Ein Osten, den es so nicht gab, der aber munter weiter lebt.

„And it's a long, long way, from where you want to be,

and it's a long, long road, but you're too blind to see.”

 – ausgerechnet “Pandora’s Box” nannte OMD den Song, aus dem diese Zeilen stammen. Doch was heißt hier Büchse: Clemes Meyer macht ein Fass auf. Er lässt auf seine real-fiktive Welt hinabprasseln, was kein normaler Mensch braucht. Richter gehen zu Kinder-Huren, Motorrad-Gangs prügeln sich den Markt, Ermittler werden kaltgestellt, Eide gebrochen. Nur der Starke überlebt. Und doch erscheint der Blick zurück als Reminiszenz an eine Zeit, die man die alte und die gute nennt. Spätestens 2009, als die Übernahme, eine feindliche, ist ja klar, dem Geschäft und seinen Machern droht.

Im Gespräch offenbart Clemens  Meyer durchaus Zuneigung zu einem dieser Macher. Und lässt ihn, am Ende doch allen Glücks beraubt, verrecken wie ein Schwein. Kein Platz für Hans im Glück.

All das überzieht der Autor mit einem eigenen Sound. Ob er ein Instrument beherrscht, ob er musikalisch ist, will am Signiertisch eine Leserin wissen. Clemens Meyer verneint; seine Geige, seine Trommeln sind die Sprache; keine Melodien für die Massen, er lässt, wenn es sein muss, seine Figuren ganz große Töne spucken.

Es wird späteren Kritikern vergönnt sein, Schicht für Schicht seines Romans abzutragen, die Vielzahl der Andeutungen und Querverweise zu sichten. Studenten werden sich mit „Im Stein“ herumschlagen müssen. Und sie werden ihre Professoren fragen: Warum gab es 2013 für diesen Roman nicht den Deutschen Buchpreis? Ein guter Professor wird loben: Eine gute Frage.

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