Die Welt kennt Willy Brandt, doch wer kennt seine Welt?
Eigentlich wollte Torsten Körner, renommierter Biograph und Medien- sowie Fernsehkritiker, ein Buch über den Schauspieler Matthias Brandt schreiben, mit dem er seit acht, neun Jahren bekannt, mittlerweile wohl auch befreundet ist. Aus diesem Vorhaben wurde dann ein ganz anderes Buch, das er am Freitag Abend bei der Herbstlese vorstellte: Eine Familienbiographie über die Brandts. Dietmar Herz, der angenehme und kundige Moderator der Veranstaltung, zog die Parallele zu Marcel Reich-Ranickis "Thomas Mann und die Seinen".
Torsten Körner betrachtet in seinem Buch die Kernfamilie, die alles andere als eine Politiker-Dynastie ist: Rut Brandt, die Frau aus Norwegen, mit der Willy Brandt 32 Jahre verheiratet war, die ihm folgte, als er aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrte, und an seiner Seite war, als er Berlins Regierender Bürgermeister, SPD-Parteivorsitzender, Kanzlerkandidat, Außenminister und schließlich Kanzler wurde. Dann die drei Söhne Peter, Lars und Matthias, die allen Beschädigungen und Schwierigkeiten, die das Leben mit einem prominenten, größtenteils abwesenden und für kindliche Bedürfnisse eher unbegabten Vater mit sich brachte, trotzen konnten und sich zu starken Individuen entwickelten. Und schließlich Ninja, das 1940 in Oslo geborene erste Kind von Willy Brandt, seine einzige Tochter.
Sie hat in der bisherigen Literatur über Willy Brandt kaum Beachtung gefunden, und es ist Torsten Körners Verdienst, sie gebührend zu würdigen. Willy Brandt hat in zahllosen Briefen an Ninja, die in Norwegen als Lehrerin gearbeitet hat, den familiären Faden zu ihr zu halten versucht. Einige dieser Briefe dokumentiert Torsten Körner in seinem Buch, einen las er bei der Buchvorstellung vor, und allein dieser Briefe wegen lohnt die Lektüre seines Buches unbedingt. Sie zeigen einen emotionalen, zugänglichen und um Nähe bemühten Vater - also das genaue Gegenteil des "öffentlichen" Willy Brandt, der oft versteinert, in sich verkapselt wirkte.
Torsten Körner und Dietmar Herz nahmen in ihrem Gespräch Themen wie Brandts Charisma, seine Neigung zu Schwermut und Melancholie und natürlich auch die Problematik der Partei als Ersatzfamilie auf. Die große, alte Familie SPD war, so Torsten Körner, "weitaus gefräßiger und unnachgiebiger" als es die Herkunftsfamilie je sein konnte.
Torsten Körner ist ein sehr differenziertes, kluges und sensibles Psychogramm der Brandt-Familie gelungen. Dass alle vier Brandt-Kinder mit Körners Buch einverstanden sind, unterstreicht dieses Fazit nur.
Die Buchvorstellung mit Torsten Körner war eine Kooperationsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung / Landesbüro Thüringen und der Erfurter Herbstlese.