Christoph Hein sprach im Ratsgymnasium über Geschichte und Geschichten seines neuen Romans „Verwirrnis“
Von der Wahrung der Fassade
Von Hanno Müller
„Nein, ,Verwirrnis‘ ist nicht meine eigene Coming-Out-Geschichte.“ Diese Klarstellung war dem Schriftsteller Christoph Hein immerhin so wichtig, dass er sie nicht nur gleich zu Beginn des Herbstlese-Abends im Erfurter Ratsgymnasium vorbrachte, sondern später auch noch einmal wiederholte.
Gut möglich, dass der Autor damit auf bisherige Erfahrungen bei ähnlichen Veranstaltungen reagierte und entsprechenden Fragen gleich mal zuvorkommen wollte. Tatsächlich dringt der Roman über die schwule Liebesbeziehung von Wolfgang und Friedeward tief ein in Seelennöte und Erfahrungswelten von Homosexuellen erst in der DDR und dann auch im geteilten und schließlich wiedervereinigten Deutschland.
Die beiden jungen Männer entdecken ihr Schwulsein in früher Jugend. Im katholischen Heiligenstadt finden sie ihre verwirrende Gefühlswelt wieder in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ und Thomas Manns „Tonio Kröger“. Beim Zelturlaub an der Ostsee erkennen beide einander und müssen zugleich um ihre Entdeckung fürchten. Als es doch passiert, glaubt Friedewards Vater, ein gläubiger Studienrat, die Unzucht aus dem Sohn mit dem Siebenstriemer herausprügeln zu können. Durch familiäre und gesellschaftliche Vorbehalte sehen sich die Männer zeitlebens genötigt, ihr Schwulsein zu verbergen. Beide gehen sogar Scheinbeziehungen mit Frauen ein, um nach außen hin die Fassade des „Normalen“ zu wahren.
Warum beschreibt ein Autor Liebeshandlungen zwischen zwei Männern, wenn er, wie der Schriftsteller im Gespräch mit Kulturredakteur Frank Quilitzsch betonte, eigentlich gar nicht so genau weiß, wie Homosexuelle miteinander umgehen? Fremde Identitäten faszinieren ihn, sagte Christoph Hein. In früheren Büchern wie „Der fremde Freund“ seien es Frauenrollen gewesen. Die Kunst bestehe allerdings darin, es nicht zu weit zu treiben. Schließlich wolle er ja keine Fahler machen.
Ausschließlich Fiktion ist der Roman „Verwirrnis“ nach Darstellung seines Schöpfers allerdings nicht. Verfasst habe er das Buch auch als eine Art Doppelporträt seines verehrten Lehrers Hans Mayer, und zwar sowohl des jungen als auch des alten. Der Leipziger Literaturwissenschaftler habe als Jude und Homosexueller einschlägige Erfahrungen gemacht und zeitlebens Angst davor gehabt, sich öffentlich zu seiner sexuellen Orientierung zu bekennen. „Wegen seiner bürgerlichen Erziehung konnte er nie darüber sprechen“, sagte Christoph Hein. Im Roman ist es Friedeward, der sich - auch um seiner Karriere als Germanist willen - tief in Täuschung und Verleugnung verstrickt und schließlich nicht mehr öffentlich zu seiner Homosexualität bekennen kann.
„Verwirrnis“ erzählt deutsche Geschichte aus der Sicht von Ausgegrenzten. Die Wahl Heiligenstadts als Roman-Schauplatz erklärt Hein mit den Widersprüchen zwischen Ideologie und Glaube, die dort besonders kontrovers aufeinandertrafen. Seine „Lieblingsfigur“ Friedewart ist nach der Wende wieder unter denen, die bei Evaluierungen ihren Job verlieren. „Ganz locker ist es bis heute nicht“, sagt der Autor.
Dieser Artikel erschien zunächst am 22. Oktober 2018 in der „Thüringer Allgemeinen“