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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 23 2022

Von Dirk Löhr, Vorsitzender des Vereins „Erfurter Herbstlese“ e.V.

Alan Marshall „Windgeflüster“

Alan Marshall „Windgeflüster“
Alan Marshall „Windgeflüster“

Diese Geschichte ließe sich auf verschiedene Weise erzählen; wie die Erinnerung die Jahrzehnte überlebte und hier und da vorwitzig ihr Köpfchen zeigte, dabei vielleicht sogar die Zunge ein wenig frech blicken ließ. Etwa, wenn Rico, der zweitgrößte und wohl auch dickste der vier Pinguine aus Madagaskar, wieder einmal ein dringend benötigtes Utensil hervorwürgte. Oder Harry Potter auf seinem Besen eine besonders rasante Kurve hinzauberte. Oder wenn Marc-Uwe Kling von ganz besonderen Einfällen seines fantastischen Beuteltiers berichtete.

Schon klar, worum es hier geht. Oder etwa nicht? Die Rede ist von Alan Marshalls Kinderbuchklassiker „Windgeflüster“. Der australische Schriftsteller und Humanist veröffentlichte das Märchen 1969 unter dem Originaltitel „Whispering in the Wind“. Nur vier Jahre später erschien es in der DDR, in Verantwortung des Kinderbuchverlags Berlin und hergestellt bei Interdruck in Leipzig. Da ging der Autor dieser Zeilen in die zweite Klasse. Marshalls Einfälle hinterließen offenkundig größten Eindruck, denn irgendwie blieben die Abenteuer von Peter, Frau Graufell und dem Bunyip, zwar etwas im Nebel, aber doch gegenwärtig.

Bis bei der Auflösung einer umfangreichen Bibliothek das Buch mit vielen anderen den Weg in das Buchasyl im Kultur: Haus Dacheröden fand. Fast so, als wollte es endlich gefunden werden. Schon beim ersten Blättern fand sich diese Passage: „Sie kampierten nachtsüber am Ufer eines Baches. Knorrige rote Eukalyptusbäume blickten sich im Spiegel des Wassers an, und Schnabeltiere durchbrachen mit gebogenen Rücken die Oberfläche des reglosen Tümpels. Frau Graufell zauberte aus ihrem Beutel eine Mahlzeit, bestehend aus einer Fleischpastete und einem Weihnachtspudding. Am nächsten Tag bahnten sie sich den Weg durch steiniges, unwegsames Land. Wombats watschelten zwischen den Steinbrocken, und blutrotgefiederte Papageien flogen von Baum zu Baum.“

Keine Frage, das Märchen spielt in Australien. Einer, zugegebenermaßen, eigenwilligen Variante des Fünften Kontinents. Neben den für Europäer mehr oder weniger bekannten Pflanzen und Tiere hat sich Marshall eine lustige Truppe zusammengestellt: Held Peter und die schöne Prinzessin Lowena, den Riesen von Jarrah und die Bleiche Hexe, das Willy-Willy-Männlein, das als Zweitakter-Tornado durch die Wüste saust, und, nicht zu vergessen, das graue Känguruh (ja: 1973 wurde es noch mit h geschrieben) Frau Graufell. Dazu ein aufs Äußerste verdutzter Astronaut und der Krumme Mick, gleichermaßen der größte Lügner und der beste Reiter der Welt.

Ach ja, der Bunyip. Der ist auch ganz wichtig. Noch nie von einer solchen Kreatur gehört? Dann kann Wikipedia (wie war das 1973?) helfen. „Der Bunyip ist ein sagenhaftes Tier, das nach Erzählungen der Aborigines in den Flüssen, Wasserlöchern und Sümpfen Australiens hausen soll. Das Aussehen des Bunyips variiert in den verschiedenen Überlieferungen beträchtlich. Wird es in einigen Darstellungen als große Schlange mit Bart und Mähne beschrieben, schildern andere Aborigines das Wesen als ein halbmenschliches Tier mit dichtem Pelz und einem langen Hals mit einem Vogelkopf. Noch eine andere Version stellt das Bunyip mit langen Walross-Stoßzähnen dar. Die Legende besagt, dass Bunyips in jeder Wasserstelle lauern können und dort auf unvorsichtige Tiere oder Menschen warten, um diese ins Wasser zu ziehen und dann zu töten. Das Gebrüll der Bunyips soll vor allem nachts zu hören sein.“

In „Windgeflüster“ erfüllt der Bunyip die vertraute Arbeit eines Drachen. Er soll die Prinzessin vor ihren Verehrern schützen. Vom König gibt es für die mörderische Prinzenabwehr fünf Dollar die Woche, bei freier Kost und Logis. Der Bunyip kann auf Peter deshalb nicht gut zu sprechen sein, denn der junge Mann will nur eines – die Prinzessin heiraten. Bis dahin ist es ein ordentliches Stück Weges. Es geht durch das Land des Greifenden Grases und per Hexenbesen hinauf auf den Mond. Die Wüste wird im Tornado überflogen und in der Küche des Riesen gilt es, ein riesiges Unwetter zu überstehen. Fehlt etwas, holt es Frau Graufell mit beherztem Griff aus ihrem Beutel hervor. Bei allen Gefahren hilft zudem ein besonderes Geschenk des Südwindes. Welches? Das wird hier nicht verraten.

Ob Peter am Ende die schöne Lowena heiraten darf? Immerhin muss er dafür drei sauschwere Aufgaben des fiesen Königs und sie ihre Abiturprüfungen bestehen. Grund zu Hoffnung besteht ja fast immer – gerade in einem Märchen. Leider scheint „Windgeflüster“ inzwischen recht selten geworden zu sein. Verkäufer fordern im Internet ganz schön saftige Preise für ein Exemplar. Das eine, von dem hier berichtet wurde, kann aber auch einfach ausgeliehen werden. Einfach märchenhaft, oder etwa nicht?

 

Von Dirk Löhr, Vorsitzender des Vereins „Erfurter Herbstlese“ e.V.

 

 

 

Alan Marshall „Windgeflüster“

derzeit nur antiquarisch bestellbar

 

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