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Erfurter Herbstlese
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Okt. 31 2021

Sven Regener und sein neuer Roman „Glitterschnitter“

Herr Lehmanns Welt

Erfurt, die dritte - Sven Regener auf der Bühne des Theaters.
Erfurt, die dritte - Sven Regener auf der Bühne des Theaters.

Von Sigurd Schwager

Was Sven Regener und Erfurt betrifft, so sind in diesem Jahr aller sehr guten Dinge drei. Erst sorgt er im Juni auf der Herbstlese-Sommerbühne für nostalgische Schübe beim Publikum, indem er heitere Szenen aus „Herr Lehmann“ vorträgt, seinem fulminanten Romandebüt von 2001. Dann bringt er im August auf dem Petersberg mit Element of Crime die Bundesgartenschau eindrücklich zum Klingen. Und nun, Erfurt zum Dritten, füllt er Ende Oktober den großen Opernsaal mit schon vorab gutgelaunten Herbstlese-Gästen.

Denn es gibt ein neues Regener-Buch. „Glitterschnitter“. Roman Nummer sechs aus Herrn Lehmanns Welt. Die üblichen Verdächtigen begegnen uns diesmal im alten Westberlin, im alten Kreuzberg der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Der Verlag wirbt in einer Weise für das Buch, wie man es bei einem solchen Autor erwarten darf: „Willkommen in der Welt von Glitterschnitter: Ein großer, wilder Roman über Liebe, Freundschaft, Verrat, Kunst und Wahn in einer seltsamen Stadt in einer seltsamen Zeit. Die Lage ist prekär: Charlie, Ferdi und Raimund wollen mit Glitterschnitter den Weg zum Ruhm beschreiten, aber es braucht mehr als eine Bohrmaschine, ein Schlagzeug und einen Synthie, um auf die Wall City Noise zu kommen. Wiemer will, dass H. R. ein Bild malt, aber der will lieber eine Ikea-Musterwohnung in seinem Zimmer aufbauen. Frank und Chrissie wollen die alte Trinkerstube Café Einfall zur kuchenbefeuerten Milchkaffeehölle umgestalten, aber Erwin will lieber einen temporären Schwangerentreff etablieren. Chrissie will, dass Kerstin endlich zurück nach Stuttgart geht, aber die muss erst noch Chrissies neuen Schrank an der Wand befestigen. Die Frage, ob Klaus zwei verschiedene Platzwunden oder zweimal dieselbe Platzwunde zugefügt wurde, ist noch nicht abschließend geklärt, aber bei den Berufsösterreichern der ArschArt-Galerie werden bereits schöne Traditionen aus der Zeit der 1. Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft wiederbelebt...“
Sven Regener ist also wieder da, und es ist mit ihm in Erfurt wie immer und wie immer wunderbar in sich stimmig: Ein Mann, ein Buch, ein Pult, eine Lampe, eine Pulle Bier und ein Prolog. Er werde, sagt Sven Regener, aus diesem Roman, den er selbst geschrieben habe, 90 Minuten vorlesen. Ohne Pause. Praktischerweise aus jedem der fünf Kapitel ein Stück, und dann sei es auch gut so. Danach signiere er, aber ohne Mitmach-Zwang.

Zum Inhalt des Buches weiß er mitzuteilen, dass Handlung und Sinn-Zusammenhang allgemein überschätzt würden. Er beginne mit dem ersten Kapitel. „Das ist super“ laute die Überschrift, und dies solle auch das Motto des Abends sein.

Los geht`s, und das Publikum lässt sich vergnügt treiben in Sven Regners wirbelnder Vortragskunst, die nicht nur seine Stimmbänder fordert. Die ersten Zeilen lauten: „‚Schau, da hast du ihn! Das ist der Aufschäumer. Und damit machst du dann die Melange!‘, sagte Kacki. Frank Lehmann zog am Hebel und wie erwartet kam der Dampfstrahl aus dem darunter angebrachten Metallrüssel. ‚Genau so!‘, sagte Kacki. Das nervte.“

Und dann folgt einer jener Bandwurm-Sätze von Regener, die sich schon mal über mehrere Buchseiten kringeln können: „Denn sosehr sich Frank Lehmann gefreut hatte, dass er die Frühschicht im Café Einfall machen durfte, denn so nannte Chrissie das, was sie hier gegen den hartnäckigen Widerstand ihres Onkels, des Café-Einfall-Besitzers Erwin Kächele, eingeführt hatte, Frühschicht, so als wäre das Café Einfall ein Stahlwerk oder ein Krankenhaus, aber egal, so froh Frank Lehmann also war, dass Chrissie heute mit ihrer Mutter zu Ikea fahren und ein paar Möbel kaufen musste und er nach dem Putzen der Kneipe gleich dableiben konnte, um an Chrissies statt die Frühschicht hinter dem Tresen durchzuziehen, so sehr ging es ihm andererseits auf den Wecker, dass die einzigen Kunden, die sich bis jetzt eingefunden hatten, diese beiden Leute aus der ArschArt-Galerie waren, der, den sie Kacki, und der, den sie Jürgen 3 nannten, weil Kacki gleich mit dem Thema Milchaufschäumen angefangen hatte, und jetzt kriegten sich die beiden gar nicht mehr ein, Milchaufschäumen hier, Milchaufschäumen da, und das nur, weil sie statt eines normalen Filterkaffees, wie er nun mal standardmäßig aus der großen alten Gastrokaffeemaschine kam, die Karl Schmidt, der mit Frank Lehmann, Chrissie und H.R. Ledigt direkt über dem Café Einfall wohnte, immer Centre Pompidou nannte, weil sie also statt eines normalen Filterkaffees aus dem Centre Pompidou nun unbedingt eine Melange haben wollten, was immer das sein sollte, ‚damit kann man nämlich auch eine Melange machen‘, hatte Kacki gesagt, ‚auf jeden Fall etwas, das einer Melange ähnlich wär!‘, und das hatte etwas mit Milchaufschäumen zu tun und mit dem Metallrüssel am Centre Pompidou und damit, dass da Dampf rauskam, mit dem man Milch aufschäumen konnte, was Frank Lehmann natürlich schon gewusst hatte, was den beiden aber herzlich egal war, sie machten immer weiter und weiter damit, Milchaufschäumen hier, Milchaufschäumen da, es hörte überhaupt nicht mehr auf und kein Ort, an dem man sich davor verstecken konnte!“

Und so weiter und so fort, anderthalb Stunden, begleitet von Heiterkeitsbekundungen des Publikums. Zwischendrin gönnt der Vorleser sich und den Zuhörern kleine Pausen. Als zum Beispiel das Wortspiel einer Fixerstube namens Drückeberger für Lacher sorgt, hält er im Buchtext inne, setzt eine stolze Miene auf, schaut in die Reihen und sagt: „Habe ich mir selbst ausgedacht.“

Man spürt: Zeit und Raum des Romans sind die seinen. Sven Regener, der in Kürze 61 wird, war in den 80ern in Westberlin Anfang 20. Die Erinnerung an diese Zeit, als das ganze Leben offen vor einem lag, sei beim Schreiben toll gewesen, hat er in einem DLF-Interview erzählt. Und dass ihn seine Figuren inspirierten, er sich gut mit ihnen identifizieren könne, so unterschiedlich sie auch seien. „Ich glaube, da erfülle ich mir auch viele Wünsche, mal andere Leben zu leben.“

Die Literaturkritiker jedenfalls sind von „Glitterschnitter“ ziemlich beeindruckt, eine kundige Dame ruft den Roman gar für den Buchpreis auf.

Was die große Leserschar von Sven Regener und seinem Schaffen hält, ist ohnehin eindeutig. Man sieht und hört es auch in Erfurt am Beifall und in den Gesprächen auf den Gängen.

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