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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Sept. 27 2014

Premiere von "Grau" im Theater Erfurt

Russland lieben heißt leiden

Fritz Pleitgen und Sergej Lochthofen vor dem ausverkauften Großen Haus des Erfurter Theaters.
Fritz Pleitgen und Sergej Lochthofen vor dem ausverkauften Großen Haus des Erfurter Theaters.

Fritz Pleitgen und Sergej Lochthofen kennen und schätzen sich seit vielen Jahren. Als Gastgeber hatte der WDR-Intendant den Chefredakteur der „Thüringer Allgemeine“ so oft zum Presseklub nach Köln eingeladen, dass Harald Schmidt einst spottete, der Erfurter könne sich locker auf Dauerbeschäftigung in die sonntägliche Kultsendung einklagen.

Diese Konstanz, die in abgeschwächter Form bis heute gilt, kam nicht von ungefähr. Lochthofen, der als einziger gelernter  DDR-Journalist dauerhaft eine Redaktion in den neuen Ländern leitete, galt schnell als Stimme und − schließlich sahen den Presseklub ja Millionen Zuschauer – Gesicht des Ostens. Als einer, der dagegen hielt, wenn sich die Kollegen aus den westlichen Redaktionsstuben in Plattitüden über die armen Brüder und Schwestern ergingen, der oft auch mit Schärfe und Polemik deutlich machte, wie er Land und Leute nach der Wiedervereinigung sah und verstand. Das brachte ihm nicht nur Freunde und manches Mal auch den Vorwurf der Arroganz ein, der ihn zumindest nach außen hin nicht sonderlich scherte. Anders mag es nach innen gewesen sein, bei der Manöver-Kritik nach der Sendung zu Hause mit Frau und Sohn. 

Und da war ja auch die Anerkennung von Menschen der Statur eines Fritz Pleitgen, der seine Autorität und Beliebtheit bei weitem nicht nur seiner wunderbaren Stimme verdankt. Die gegenseitige Zuneigung der beiden Vollblut-Journalisten endete auch nicht, als Sergej Lochthofen 2009 mit einigem Aplomb seinen Posten als Chefredakteur verlor. So fiel der Name Fritz Pleitgen recht schnell, als bei der Planung der 18. Herbstlese ein Gesprächspartner für die Premiere von „Grau“ gesucht wurde, einer Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land, wie der Untertitel des zweiten Buches von Sergej Lochthofen verheißt.

Der 76-Jährige Pleitgen sagte – trotz übervollen Terminkalenders − sofort zu. Ein echter Glücksfall, wie sich bald zeigte. Der Dreiklang aus Lochthofen, Pleitgen und Herbstlese kam beim Erfurter Publikum sehr gut an. Binnen weniger Tage war der Abend im Großen Haus des Theaters ausverkauft; ein Erfolg, der so nicht erwartet werden konnte, und der dennoch nicht überrascht. Freitagabend drängten 800 Besucher in den Saal, die letzten nahmen sogar mit Stehplätzen vorlieb.

Sie wurden nicht enttäuscht. Das zweistündige Gespräch der beiden großgewachsenen Männer bot beste Unterhaltung. Im Publikum wurde gelacht und applaudiert, es gab Momente nachdenklicher Stille und immer wieder zustimmendes Kopfnicken.

Das war zuerst ein Erfolg der beiden Protagonisten, ihrer Art, freundschaftlich und respektvoll, aber immer auch mit einer feinen Portion Ironie rhetorisch die Klingen zu kreuzen. Obwohl schon ihre Lebenswege – Pleitgen war lange Korrespondent in Moskau, Lochhofen wurde in Workuta geboren und studierte später auf der Krim Kunst – beide zu ausgewiesenen Kennern der Sowjetunion und Russlands macht, beurteilten sie insbesondere die aktuelle Lage doch ein wenig unterschiedlich.

Das musste wohl so sein. Sergej Lochthofen, der am Verbannungsort seines Vaters in der Kälte hinter dem Polarkreis die ersten fünf Lebensjahre verbrachte, kann seine Familiengeschichte bei der Beurteilung der DDR wie der aktuellen Ereignisse am Dnjepr und der Moskwa nicht ausblenden. Wie auch, über 30 Jahre verbrachte der Großvater, der frühere rote Kommissar und spätere Anhänger der so genannten Arbeiteropposition, in Stalins Gefängnissen und Lagern. Beim Vater, dem Dortmunder Jungen, kamen bis zu seiner Ausreise 1958 über 20 Jahre zusammen. Der Stalinismus, da ist er sich ganz sicher, steckt den Russen bis heute in den Knochen. Hoffnung, daran könne sich bald etwas ändern, zeigte Sergej Lochthofen in diesem Gespräch nicht. Nicht zu Zeiten des früheren KGB-Manns an der Spitze des Landes, der selbst vor einem Krieg nicht zurückschreckte, um seine innenpolitische Macht zu festigen. Im Gegenteil, Zar Peter war der letzte Europäer in Russland; wer das Land liebt, ist verflucht, an ihm zu leiden, erklärte er seine Sicht.

Fritz Pleitgen sah das durchaus anders. Er, der die Annexion der Krim als einer der ersten Deutschen entschieden verurteilte, gab dem Westen eine gehörige Mitschuld am ukrainischen Desaster. Auf der Erfurter Bühne nannte er den Drang der EU und der Nato nach Osten einen großen Fehler. Im ewigen Widerstreit der proeuropäischen und nationalistischen Kräfte in Russland wurden so nur letztere gestärkt. Das einzige, was in den letzten Jahrhunderten in den Beziehungen zwischen Russland und den Deutschen funktioniert habe, sei die Wirtschaft gewesen. Gerade diesen Bereich mit Sanktionen zu überziehen, sei grundfalsch, positionierte er sich, und wurde dafür mit Beifall bedacht.

Anders als Sergej Lochthofen, der die Krim an Nationalisten und die Mafia verloren glaubt, wollte sich Fritz Pleitgen damit nicht abfinden. Er plädierte für eine Neuauflage der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Putin müsse in eine echte Partnerschaft eingebunden werden, zeigte er sich überzeugt.

Bei derlei Exkursen in die Politik geriet der Anlass des Abends, die Vorstellung von „Grau“, gezwungenermaßen in den Hintergrund. Anders wäre es auch nicht gegangen, kein Mensch im Publikum hätte verstanden, wenn dieses große Thema ausgespart geblieben wäre. Doch die beiden Herren fanden den Weg zum Buch zurück, wenn auch die Zeit dafür knapp wurde. Immerhin konnte Sergej Lochthofen mit einigen Mythen aufräumen, die ihn bis heute begleiten. Er sei weder Mitglied der KPdSU noch des KGB gewesen, sagte er mit Anspielung auf eine Thüringer Staatssekretärin, die dies gerade erst wieder behauptet habe.

Die zwei Protagonisten des Abends sind echte Profis. In Jahrzehnten ihres Berufs haben sie als Journalisten gelernt, ihre Texte auf Zeile zu schreiben und ihre Filme auf die Sekunde zu schneiden. So beendeten sie ihr Gespräch exakt nach zwei Stunden – eine unterhaltsame wie nachdenkliche, eine streitbare und fruchtbare Zeit. Das Publikum dankte ihnen mit kräftigem Beifall.

Fritz Pleitgen und Sergej Lochthofen im Theater Erfurt

Bilder: Holger John | VIADATA

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