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Erfurter Herbstlese
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April 24 2016

Der Arzt und Bestsellerautor Manfred Lütz erklärt im Erfurter Kaisersaal das Glück

Die Glückserfahrung als Geschenk

Zum Glück gibt es Manfred Lütz - im Erfurter Kaisersaal sogar zum Welttag des Buches.
Zum Glück gibt es Manfred Lütz - im Erfurter Kaisersaal sogar zum Welttag des Buches.

Von Sigurd Schwager

Glück gehabt! Obwohl die Bahn ihre Verspätungsmöglichkeiten ausreizt, kommt der Vortragsreisende am Ende doch noch pünktlich zu seinem Erfurter Publikum. Es ist ein immer wieder gern gesehener Gast, der zur Frühlingslese 2016 den schönen Kaisersaal füllt: Dr. Manfred Lütz, 62, studierter Mediziner und Theologe, Facharzt für Nervenheilkunde, Psychiatrie, Psychotherapie und langjähriger Chefarzt eines Kölner Krankenhauses; außerdem Bestsellerautor, streitbarer Talkshow-Veteran, Kolumnist – sowie rundum erfreuliches Gesamtkunstwerk einer linksrheinischen Frohnatur.

„Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult“ oder „Irre! Wir behandeln die Falschen“ – Bücher wie diese und deren höchst unterhaltsame Präsentation haben Lütz zu einer ziemlich großen Fangemeinde verholfen. Des Autors Glück scheint fast unvermeidlich, denn auch sein neuestes Werk ist ein Bestseller: „Wie Sie unvermeidlich glücklich werden. Eine Psychologie des Gelingens“.

Das greift man als Leser zu. Wer möchte nicht glücklich werden?  Wer nicht erfolgreich sein? Doch das kundige Publikum ist natürlich darauf eingestimmt, was es von Manfred Lütz erwarten darf, inklusive Unterschied von Glück und Erfolg.

„Mein Buch über das Glück ist ein Anti-Ratgeber. Denn Glücksratgeber machen unglücklich, weil da ein Autor beschreibt, wie er selber glücklich wurde und den Leser dann traurig zurücklässt, weil der Leser nun mal leider nicht der Autor ist.“ So hat es Manfred Lütz im Gespräch mit Hanno Müller in der „Thüringer Allgemeinen“ formuliert.

Und weiter: „Wenn Sie mit Gewalt glücklich sein wollen, dann funktioniert das nicht. Die Vorstellung, man könne Glück einfach herstellen, ist der Kern jeder Sucht, von der Drogenabhängigkeit bis zur Glücksspielsucht . . . In Wirklichkeit ist Glück im Moment des Glücks gar kein Thema für uns. Erst wenn wir dann später einmal unglücklich sind, denken wir an die Zeiten des Glücks zurück.“

Leicht variiert sagt er es so jetzt auch im Kaisersaal.  Er zitiert den Soziologen Ulrich Beck, der zu Recht davon spreche, dass die Ratgeberliteratur eine Schneise der Verwüstung durch Deutschland schlage.

Wenn Lütz sich an seinem Pult auf der Erfurter Bühne besonders heftig, also witzig, aufregt, ist es für seine Zuhörer am schönsten. Dann lässt man ihm auch Kalauerndes durchgehen und glaubt an die Berufsbezeichnung Kabarettist, die Wikipedia dem Arzt und Autor zuordnet. Er lebt das Komödiantische aus an diesem Abend. Einmal muss er nur einen einzigen Satz sagen, nämlich „Wir haben ein großes Fest zum Abschluss der Pubertät unserer Töchter gefeiert“, um den Saal sofort in einen Heiterkeitszustand zu versetzen, der stark an Jan Weilers fröhlichen „Pubertier“-Frühlingsleseauftritt an selbigem Ort erinnert.

Aber man täusche sich nicht. Der Titel des Glücksbuches ist ironisch gemeint, das Anliegen jedoch ein ernsthaftes, ein philosophisches, auch ein spirituelles. Er habe, sagt Lütz, eine kleine unterhaltsame Geschichte der Philosophie des Glücks erzählen wollen, angereichert mit den Gedanken von einigen der klügsten Menschen der Weltgeschichte.

Wie im Buch kommt der Autor auch im Vortrag auf das Verhältnis von Glück und Leid zu sprechen. Seine Stimme wird dabei leiser und nachdrücklicher. Stille herrscht im Saal. Kann man eigentlich auch in Lebenskrisen glücklich sein? Lütz zitiert mehrfach den Philosophen Karl Jaspers, dass die Grenzsituationen menschlicher Existenz, Leid, Schuld, Kampf und Tod, unvermeidlich seien.

Wenn man zeigen könne, wie man in diesen unvermeidlichen Situationen glücklich sein kann, dann kann man auch unvermeidlich glücklich sein. Lütz spricht von Eltern, deren drei Söhne alle im Rollstuhl saßen und inzwischen alle gestorben sind. Bei der Beerdigung ihres letzten Sohnes habe ihm die Mutter gesagt, das Ehepaar überlege nun, ein behindertes Kind zu adoptieren.

Lütz erzählt von Jehuda Bacon, einem Auschwitz-Überlebenden. Der habe ihm sehr überzeugend vom Unglaublichen berichtet: wie man auch im schlimmsten Leid glücklich sein könne.

Man liest es im Buch und merkt es an diesem Abend:  Wichtig ist dem Autor der Gedanke, dass es glücklich macht, wenn man etwas Sinnvolles tut. "Unser Dorf im Rheinland ist glücklicher", sagt er, "seit wir Flüchtlinge haben." Menschen in Not zu helfen, sei etwas in sich Sinnvolles, und das mache glücklich.

Dann, zum Abschluss, wird aus dem Redner doch noch ein Vorleser des eigenen Buches. Sich auf den Philosophen Josef Pieper beziehend, liest er: Das Bedürfnis nach Glück sei nicht bloß ein sinnliches, sondern auch ein geistiges Bedürfnis. Es sei die Triebfeder hinter all dem ernsthaften oder auch banalen Suchen nach Glück. Das höchste Glück des Menschen aber liege in der liebevollen Kontemplation, im ruhigen oder überwältigenden Schauen, im sinnlichen und geistigen Ergriffensein von der Schönheit und Wahrheit der Welt.

Das könnten ganz alltägliche Anlässe sein, das Lächeln eines Kindes, der Anblick einer entzückenden Landschaft, ein ergreifendes Kunstwerk, aber auch die Erfahrung von Liebe, Güte, Zuneigung. Und solche Glückserfahrung sei kein Lohn für ein moralisches Leben, diese Glückserfahrung sei ein Geschenk.

Manfred Lütz schlägt sein Buch zu. Die anderthalb Stunden mit ihm sind um und wie im Fluge vergangen. Es gibt rauschenden Beifall vom beglückten Publikum. Lese-Programmchefin Monika Rettig verabschiedet den Autor mit edlen Brückentrüffeln und wünscht dem Publikum, was sonst, viel Glück.

Manfred Lütz im Kaisersaal

Fotos: Uwe-Jens Igel

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