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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 15 2016

Ulrike Folkerts, Clemens von Ramin und Stefan Weinzierl holen „Die Blechtrommel" auf die Bühne des Kaisersaals

Die Sprache der Trommel

Eine von fünf Tatort-Kommissaren bei der Herbstlese 2016: Ulrike Folkerts.
Eine von fünf Tatort-Kommissaren bei der Herbstlese 2016: Ulrike Folkerts.

Von Sigurd Schwager

Jede Lesung ist auch Theater, eine kleine Aufführung, und manchmal verbünden sich die Künste: das Wort mit dem Klang, der Klang mit dem Bild, das Bild mit dem Wort und der Bewegung. In welch künstlerische Höhen das führen kann, war 2015 zu erleben, als der Schauspieler Matthias Brandt und der Musiker Jens Thomas einen beängstigend großartigen „Psycho“-Herbstlese-Auftritt in Erfurt hatten.

Ein Jahr später nähern sich wieder Mimen und Musiker gemeinsam einem Klassiker, diesmal der "Blechtrommel". Wieder ist der Saal brechend voll, und wieder sind wohl die meisten im Publikum nicht zuerst vom Original, sondern vom Interpreten angelockt worden, den man als TV-Ermittler kennt.

In dieser Beziehung ist die 20. Herbstlese ein Dejà-vu-Jahrgang für Krimi-Fans. Drei aktive oder ehemalige „Tatort“-Kommissare, Gregor Weber, Andrea Sawatzki und Miroslav Nemec, waren schon da mit ihren Büchern, und Dietmar Bär wird noch folgen mit der Gangsta Oma. Und für die Fünfte im „Tatort“-Bunde hätte man als Blechtrommlerin keinen besseren Termin als diesen im Herbstlese-Kalender finden können:  Am Abend nach dem 1000. „Tatort“ und ihrem anschließenden Bildschirm-Auftritt als „Tatort“-Stubenälteste betritt Lena Odenthal, pardon Ulrike Folkerts die Bühne im schönen Erfurter Kaisersaal.

Man hat das Gefühl, diese Frau schon immer zu kennen, und tatsächlich muss man weit zurückschauen. Als sie beginnt berühmt zu werden, ist die Schauspielerin Ulrike Folkerts 28 Jahre jung. Am 29. Oktober 1989, die Mauer steht noch, ermittelt sie erstmals als Lena Odenthal in Ludwigshafen. 64 Fälle hat sie bis heute gelöst. Ein Ende scheint nicht in Sicht.

„Die Neue“ von 1989 ist inzwischen die dienstälteste Fernsehkommissarin. Ulrike Folkert hat neben dem „Tatort“ immer wieder viele andere Dinge gemacht, kriminalfallfreie Filme gedreht, im Theater gespielt, den Tod im Salzburger „Jedermann“ gegeben, Hörbücher eingelesen, Bücher geschrieben, sich stark sozial engagiert. Das aktuelle Programm, dass sie in Erfurt vorstellt, hat mit dem „Tatort“ nur eine Gemeinsamkeit: die Teamarbeit.

Die Schauspieler Ulrike Folkerts und Clemens von Ramin sowie der Schlagzeuger Stefan Weinzierl holen „Die Blechtrommel“ auf die Bühne. Die Idee dazu stammt von Stefan Weinzierl. Wie er auf diese Text-Musik-Kombination kam, hat er in einem Gespräch mit TA-Redakteur Ingo Glase erklärt. Die Blechtrommel begleite die außergewöhnliche Geschichte nicht nur als Instrument und dramaturgisch, sondern halte sie als Klammer oder Membran zusammen.

Eben das, so der Musiker habe ihn sehr fasziniert. „Literatur ist für das Kino im Kopf“, sagt er, „und die Musik kann – wie im Film – eine zweite Ebene einziehen, die Gedanken und die Handlung nicht nur untermalen, sondern auch interpretieren.“

Im Einsatz sind Marimba, Vibraphon, Perkussion, Live-Elektronik und natürlich die Trommel, die im Bühnenvordergrund platziert ist. Die Schauspieler, die im Hintergrund sitzen, werden nur zweimal direkt hinter ihr Aufstellung nehmen, beim Prolog und beim Epilog.

Eine Turbo-„Blechtrommel“, mit Musik versehen und auf Spielfilmlänge  gebracht, stellt ein ziemliches Wagnis dar. Denn dieser gewaltige Paukenschlag der deutschen Nachkriegsliteratur, mit dem sich Günter Grass 1959 in die Reihe der großen Erzähler des 20. Jahrhunderts katapultierte, ist ein komplexer 600-Seiten-Entwicklungsroman. Regisseur Volker Schlöndorff hat 1979 die Geschichte des Trommlers Oskar Matzerath, der mit drei Jahren aufhört zu wachsen, in einem   oscar- und palmenreifen Filmkunstwerk kongenial verewigt.

Als 20 Jahre später, 1999, die Jury Günter Grass den Literaturnobelpreis zuspricht, würdigt sie damit sein Lebenswerk, aber man liegt nicht falsch, wenn man in der Begründung, Grass habe „in munter schwarzen Farben das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet“,  insbesondere die „Blechtrommel“ zu  entdecken glaubt.

Man muss das alles nicht wirklich wissen, um Oskar Matzerath und seiner Geschichte an diesem Herbstlese-Abend folgen zu können. Die Szenen von der Geburt bis Tod des Vaters sind geschickt ausgewählt und verknüpft. Sie lassen schlaglichtartig den Reichtum des Romans aufscheinen – und wecken den Wunsch, nach langer Zeit wieder oder zum ersten Mal das Buch in die Hand zu nehmen, sich in seine Sprachgewalt zu begeben.

Die atmosphärisch dichte Vortragskunst von Ulrike Folkerts und Clemens von Ramin erzeugt Spannung. Aber man merkt, dass sie das Programm noch nicht oft öffentlich präsentiert haben. Auch wenn sie nicht ins Gewicht fallen, sind die Textwackler, besonders bei Ulrike Folkerts, nicht zu überhören.

Sehr zu beeindrucken weiß Stefan Weinzierl. Seine Klangwelt ist kein Text-Zierrat. Sie steht im Dienst der Sprache, drängt sich nie auf und bleibt doch stets präsent. Und der Musiker sorgt für den Höhepunkt des Abends: Die Trommel ist vom Bühnenrand verschwunden. Plötzlich meldet sie sich von weit hinten, der Ton schwillt langsam an. Trommelnd schreitet Stefan Weinzierl durch den dunklen Saal zum Licht. Und trommelt und trommelt, endend im heftigen Zwischenapplaus.

Beklemmende Stille herrscht, wenn Ulrike Folkerts und Clemens von Ramin abwechselnd Szenen vom November 1938 lesen, die zu den grausamsten des Abends und des Buches gehören. „Es war einmal ein Musiker, der hieß Meyn und konnte ganz wunderschön Trompete blasen . . . Es war einmal ein SA-Mann, der hieß Meyn . . . Es war einmal ein Musiker, der erschlug seine vier Katzen, begrub sie im Müllkasten . . . Es war einmal ein SA-Mann, der tötete seine vier Kater und wurde, da die Kater noch nicht ganz tot waren, von den Katern verraten und von einem Uhrmacher angezeigt . . . Es war einmal ein Spielzeughändler, der hieß Sigismund Markus und verkaufte unter anderem auch weißrot lackierte Blechtrommeln . . .“

Auf dessen Schaufensterscheiben schreiben Braunhemden Judensau, zertreten erst die Scheibe mit ihren Stiefelabsätzen und dann sein Leben.

Das Wort trifft auf den Klang und beides auf die Zuhörer. Die bedanken sich mit starkem Beifall für einen intensiven Abend und murren nicht, dass es keine Signierstunde gibt. Es ist 22 Uhr, am anderen Morgen um sieben Uhr beginnen für Ulrike Folkerts Dreharbeiten in Baden-Baden.

Zweimal, 1998 und 2006, war Günter Grass, ein begnadeter Vorleser der eigenen Texte, Gast der Erfurter Herbstlese. Ob ihm dieser dritte Grass-Abend gefallen hätte? Ich denke schon. 

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