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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 01 2013

Weil einfach einfach einfach ist

Der Kaisersaal ist ein geschichtenträchtiger Ort - und damit gerade der richtige für Daniel Kehlmanns Roman "F".
Der Kaisersaal ist ein geschichtenträchtiger Ort - und damit gerade der richtige für Daniel Kehlmanns Roman "F".

Das geschriebene Wort hat es schwer. Fesselt es nicht genug, wird es unverständlich, fehlt die Zeit, ist es schnell mit ihm aus; ohne Gnade legt der Leser den Text zur Seite. Bei Artikeln in Journalen bedeutet das meist: für immer. Ein wenig mehr Hoffnung besteht bei einem Buch. Einmal angefangen, gilt ein gewisser Ehrgeiz, es auch vollends zu lesen. Ist das geschafft, kommt das Buch auf Nimmerwiedersehen ins Regal. Nur ganz wenigen Ausnahmen ist der Weg zurück vergönnt; zum Lieblingsbuch avanciert versprechen sie multiples Vergnügen.

Wie viel einfacher haben es da Tonkunst und Liedgut. Sie schöpfen ihren Reiz oft erst aus der Wiederholung. Sie ist – je anspruchsvoller Melodie und Rhythmus – erst die Voraussetzung für ein lustvolles Verstehen. Dass die Umkehr gilt, darf als kleiner Treppenwitz der Evolution angesehen werden. Allzu eingängiges, zum Beispiel der allgegenwärtige Sommerhit, verliert schnell an Attraktion und mutiert in rasender Eile vom Ohrwurm zur akustischen Belästigung.

So ungerecht geht es zu. Ein Buch, etwa eine Biografie Rachmaninows, hat wenige Chancen auf mehrfache Lektüre. Das Tonwerk des genialen Russen, um beim Beispiel zu bleiben, besteht geradezu darauf. Das 3. Klavierkonzert erschließt sich den wenigsten beim ersten Hören (auf das Phänomen verschiedener Einspielungen soll hier gar nicht erst eingegangen werden).

Kurz: das geschriebene Wort hat es nicht leicht. Nun hat sich das Marketing schon vor Jahrhunderten einen Trick erdacht, der, mit dem Fortschreiten der Wiedergabetechnik, seine Wirkmächtigkeit immer mehr entfaltet. Man nehme das Wort und lasse es klingen; der Vortrag, die Lesung, das Hörbuch machen es möglich.

Der Auftritt Daniel Kehlmanns zur Herbstlese bestätigt diese These auf das trefflichste. Dort, wo der Leser verzweifeln wollte, hilft ihm der Vorleser. Im vollen Kaisersaal präpariert der Autor seinen Text, bis der Witz freiliegt, der sich bei der Lektüre nicht einstellen wollte.

Das ist einigermaßen überraschend. Michael Hametner, der für das Lesecafe von mdr-Figaro den Abend aufzeichnet, hilft hörbar, Werk – den Roman „F“ - und Autor zu verstehen. Besser noch, er gibt Daniel Kehlmann im Gespräch die Möglichkeit, seinen Roman gegen die vielstimmige Kritik zu verteidigen.

Daniel Kehlmann macht das nicht aus dem Schmollwinkel heraus, sondern er simplifiziert sich und seinen Text so weit, dass sie fast schon verstanden werden müssen. Hametner ist das unheimlich. Seine Frage, ob sich sein Gesprächspartner nicht etwas zu unschuldig gibt, lässt der aber locker abprallen.

Das ist, um im Bild zu bleiben, ganz großes Hörspiel. Kehlmann, der sich zu Beginn des Abends noch des Vorwurfes eines Theaterskandals erwehren muss, wandert dabei auf ganz schmalem Grat. Da, im Theater, hat ihn die Banalisierung seines Textes so verstört, dass er den Saal verließ, hier, in Erfurt, führt er der großen Vereinfachung das Wort; man möge doch bitte seine Figuren nicht zu sehr als Metaphern sehen.

Einige der vielen Kritiken, die in den wenigen Tagen seit Erscheinen von „F“ erschienen, konnten sich dieser Versuchung nicht entziehen. Daniel Kehlmann entwertet ihre Mühen gleichsam im Nebensatz. Für ihn bedarf es weniger an Deutung, seine Charaktere sprechen für sich. Er habe schon immer über drei Brüder schreiben wollen, erklärt er die eine Motivation für sein jüngstes Werk. Die andere: Der Betrug, die Hochstapelei, besser noch die Betrüger und Hochstapler, hätten ihn schon immer interessiert.

So lässt er sie dann, glaubt man Kehlmanns Werksgeschichte, machen, den Martin, und die Zwillinge Eric und Iwan. Den Heuchler, den Betrüger und den Fälscher. Das Chaos, das die drei anrichten, ist indes kein reales, immer wieder lässt der Autor es zu, dass sich die drei, und mit ihnen die ganze Handlung, der Wirklichkeit entziehen. Das Eingeständnis „ich war als Schriftsteller nie ein Realist“, ist da nur folgerichtig. Aber Kehlmann treibt es noch ärger. Selbst auf seine Geister ist kein Verlass, auch die metaphysische Instanz versagt in seinem Roman, gibt er zu.

Es ist eine der Stellen, an denen das Publikum herzlich lacht. Auch das ist eine der Sachen, die für Lesungen sprechen. Allein mit dem Buch lachen doch die wenigsten, sinniert Daniel Kehlmann später; hier, in der Masse, scheint das um einiges einfacher.

Mit dem Mut zum Unrealen ist die eine Säule benannt, die den Text trägt. Die andere ist eine der Fragen jedes bewussten Lebens schlechthin – was ist Schicksal, was freier Wille? Auch wenn die Herren Kehlmann und Hametner mit ihrem Gespräch zeitweise auf einer philosophischen Untiefe auflaufen, spricht dieses Mal der Text klare Worte. Schon auf der zweiten Seite ist es fast um Martin geschehen. Was wohl dann aus dem Roman geworden wäre?

Bestimmt kein wesentlich anderer; eben einer, der weniger in der Nähe eines Felix Krull zu suchen ist und seine Sympathie für, richtiger, seine Verwandtschaft mit einem Autor wie Michail Bulgakow nicht verleugnen kann. Allerdings bedurfte diese Erkenntnis, von einem guten wie klugen Freund schon vor Wochen geäußert, erst ihrer Reifung im Kaisersaal.

So schwer manchmal das Buch, so leicht der Abend bei der Herbstlese. Dennoch bleibt ein Misstrauen, wie weit die Vereinfachung wirklich geht. Was sie für neue Fragen aufwirft, auf die Martin antworten könnte: „Es ist ein Mysterium“. So bleibt von dem Abend die Erinnerung an einen gut aufgelegten Daniel Kehlmann, der Blick auf eine imposant lange Schlange vor dem Tisch, an dem der Autor signiert, und Sätze wie diesen: „Auch Paranoide haben Feinde“.

Dann geht es nach Hause, wo schon der Rachmaninow auf dem Plattenteller wartet.

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