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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 08 2015

Denis Scheck führt zum Finale der 19. Herbstlese im Erfurter Theater durch seine literarische Welt 2015

Ein Mann, ein Buch, ein deutliches Wort

Herbstlese-Finale mit dem einzigartigen Denis Scheck.
Herbstlese-Finale mit dem einzigartigen Denis Scheck.

Von Sigurd Schwager

Ob 2015 ein gutes Literaturjahr für den Kritiker Denis Scheck gewesen ist, wissen wir noch nicht. Was wir aber wissen:  Wir haben es mit einem Denis-Scheck-Genießer-Jahr zu tun.

Im Frühling 2015 bekommt er in Hamburg den Champagne-Preis für Lebensfreude. Seine Verdienste um das intelligente Vergnügen an Literatur werden dabei natürlich exquisit perlend dotiert. Im Herbst 2015 ehrt man den 50-jährigen Bibliomanen in Frankfurt am Main mit dem Julius-Campe-Preis. Weil der stiftende Hoffmann und Campe-Verlag weiß, dass der Mensch nicht vom Buch allein genießend leben kann, spendiert er statt eines Preisgeldes 99 Flaschen Wein.

Und jetzt, am Nikolaustag 2015, dankt ihm in Erfurt die Herbstlese mit allerfeinster Schokolade, mit handgemachten Brückentrüffeln. Doch die süße Versuchung muss er sich zuvor erst noch verdienen. Mit dem, was er am besten und so gut wie kaum ein anderer in Deutschland kann: mit dem Reden über Bücher.

Damit bestreitet er wie schon die Jahre zuvor das Finale der Erfurter Herbstlese. Diesmal ist man umgezogen in den großen Saal der neuen Oper, aber selbst der reicht nicht aus. Ausverkauft seit langem.

Ein Tisch, darauf  Bücher. Links Bücher, rechts Bücher und dazwischen Bücher. Mittendrin Denis Scheck als Bücherreiseführer. Damit das Publikum im Verlauf des Abends nicht die Übersicht verliert,

halten viele der Damen und Herren jenes vor der Veranstaltung erhaltene Blatt Papier in den Händen, das die Namen der Dichter und die Titel der Bücher nennt, die Denis Scheck empfiehlt.

Doch der Kritiker, dem man gern glaubt, dass er die 90 000 Bücher, die jährlich in Deutschland erscheinen, alle, wirklich alle, gründlich gelesen hat, hält sich  zu Beginn außerhalb seiner angekündigten Liste auf. Die allermeisten der 90 000 neuen Bücher, sagt er, könne man ignorieren. Weil? Weil sie ganz einfach Quatsch seien. Da reiche es aus, den gesunden Menschenverstand zu bemühen.

Dann greift Denis Scheck, gewissermaßen zum Aufwärmen, doch in die Quatschkiste. Sein Lieblings-Doofbuch heiße „How to shit in the Woods“ – ein Outdoor-Ratgeber für die Notdurft im Walde. Dem Basiswissen für draußen folgt ein Buchtipp für drinnen: „The mystic cookbook“. Spirituell kochen, du liebe Güte.

Natürlich kriegen nicht nur zu Recht unbekannt gebliebene Autoren ihr Fett weg. Wer Denis Scheck kennt, kennt seine üblichen Verdächtigen, die er auch in Erfurt anzählt. Gäbe es auf der Bühne eine Tonne, dann flögen mit verachtungsvollem Schwung die Bücher von Charlotte Roche, Tommy Jaud

und Sebastian Fitzek hinein.

Was lernen wir daraus mit Denis Scheck und aus eigener Erfahrung? Bestsellerlisten sind keine optimale Orientierung im großen dichten Bücherdschungel. Darum mühen sich Kritiker, die eine oder andere Schneise zu schlagen. Das ist nicht einfach und manchmal auch vergeblich.

Denis Scheck hangelt sich zunächst an seriösen Preisen durchs Gewirr und findet zuerst, wie sich das gehört, die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Ihr Buch „Der Tod hat kein weibliches Gesicht“ sei Ergebnis einer grandiosen Collagetechnik, authentisch die Geschichten, dichterisch die Art und Weise der Darstellung.

Dann folgt „Abfall für alle“ von Reinald Götz, der 2015 den wichtigsten deutschen Literaturpreis erhält. „Gigantischer Textkosmos. Großer Theaterautor. Großer Popliterat.“ Wie beim Verriss gilt für Scheck auch beim Lob: Ein Mann, ein Buch, ein deutliches Wort!

Die Preisträgerrunde wird komplettiert durch den Gewinner des Deutschen Buchpreises 2015: Frank Witzel. Der Buchtitel „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist so lang, dass ihn selbst Denis Scheck nicht ganz korrekt zitiert. Ein großer Wurf, ein Buch als Zeitkapsel, zeigt sich der Kritiker beeindruckt. Was ihm an dem Werk missfällt, drückt er ungewohnt sanft aus. 800 engst bedruckte Seiten – wie er selbst müsse auch das Buch wohl etwas abnehmen.

Bei Denis Schecks Wanderung durch das Wunder- und Abenteuerland Literatur entdecken wir mit ihm drei Dutzend Bücher aus mehreren Jahrhunderten. Bücher, die vermutlich jeder im Saal kennt und solche, von denen die meisten noch nie etwas gehört haben; Michael Fehr und sein

„Simeliberg“ zum Beispiel. Grass kommt vor und Ludwig Emil Grimm, der dritte der Grimm-Brüder,

Rushdie und Raddatz, Franzen und Eudora Welty, Amis und Price. Lieblingsautor Heinrich Steinfest tritt gleich zweimal in Erscheinung. Und neben dem schon an anderer Stelle erwähnten Sebastian Fitzek begegnen wir weiteren Autoren der aktuellen Herbstlese. Scheck ist des

Lobes voll über  Jenny Erpenbeck, Rüdiger Safranski, Rafik Schami und Ilija Trojanow.

Scheck schwärmt von Romanen, Gedichtbänden, Krimis und Kulinarischem, von sprachlichen und gestalterischen Experimenten wie „S. - Das Schiff des Theseus“. Er nennt es eine Feier des Gutenberg-Mediums Buch. Und schon gar nicht fehlen darf „das schönste Buch der Welt“, Milnes

„Pu der Bär“, übersetzt und gelesen von Harry Rowohlt, den nicht nur Denis Scheck sehr vermisst.

Eine ziemlich bunte Mischung also. Im Grunde findet man in jeder Buch- und Dichtercharakterisierung, sei sie nun leicht ausschweifend oder aphoristisch kurz, bestätigt, was Denis Scheck auszeichnet: Fundiert und pointiert sind zwei glänzende Seiten einer Medaille. Hat man das Werk schon gelesen, fühlt man sich (fast) immer bestätigt. Wenn nicht, nimmt man Schecks geschliffene, selbstgewisse Sätze aus Erfahrung an: „Vertrauen Sie mir. Ich weiß, was ich tue.“

Was aber sind die Maßstäbe des Urteils eines Literaturkritikers. Er selbst hat dazu in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Campe-Preises Heinrich Heine aus dem Jahre 1832 zitiert: „Nicht den Werkstätten der Parteien will ich ihren banalen Maßstab entborgen, um Menschen und Dinge damit zu messen, noch viel weniger will ich Wert und Größe derselben nach träumenden Privatgefühlen bestimmen, sondern ich will so viel als möglich parteilos das Verständnis der Gegenwart befördern und den Schlüssel der lärmenden Tagesrätsel zunächst in der Vergangenheit suchen. Die Salons lügen, die Gräber sind wahr. Aber ach! Die Toten, die kalten Sprecher der Geschichte, reden vergebens zur tobenden Menge, die nur die Sprache der Leidenschaft versteht.“

Denis Scheck schlussfolgert: "Die Salons lügen, die Gräber sind wahr – das ist keine schlechte Devise auch zur Kontrolle der Kontrolleure der öffentlichen Meinung."

Nach knapp zwei Stunden ist die letzte Veranstaltung der 19. Erfurter Herbstlese vorbei. Es gibt rauschenden Beifall für den Gast und für das ganze Lesefest. Denis Scheck packt die Schachtel mit den Brückentrüffeln ein, denn er darf sie nicht genießen. Er muss sie, auch Kritiker haben es manchmal schwer, daheim abliefern.

Dann gesellt er sich zur Menschenschar am Büchertisch, wo das von Denis Scheck Empfohlene zum Kauf ausliegt. Weihnachten ist nah. Man sagt schließlich „Auf Wiedersehen“, und meint damit nicht erst das Finale der Herbstlese 2016 in einem Jahr.

Denn es ist ganz druckfrisch: Denis Scheck kommt mit Eva Gritzmann und ihrem gemeinsamen Buch „Solons Vermächtnis. Vom richtigen Zeitpunkt im Leben“ zur Frühlingslese.

 

Es folgt die Liste der von Denis Scheck empfohlenen Bücher ((alphabetisch nach Autorenname sortiert):

Abrams, J.J. / Dorst, Doug:   S. - Das Schiff des Theseus (Kiepenheuer & Witsch)

Alexijewitsch, Swetlana:  Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (Hanser)

Amis, Martin: Interessengebiet (Kein & Aber)

Barnes, Julian: Lebensstufen (Kiepenheuer & Witsch)

Dollase, Jürgen: Kopf und Küche: Die Reise ins Innere des Geschmacks – Von der ersten Auster bis zu den besten Küchen Europas (AT Verlag)

Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen (Knaus)

Fehr, Michael: Simeliberg (Der gesunde Menschenversand)

Franzen, Jonathan: Unschuld (Rowohlt)

Gaiman, Neil: American Gods (Eichborn)

Goetz, Rainald: Abfall für alle (Suhrkamp Taschenbuch)

Grass, Günter: Vonne Endlichkait (Steidl)

Grimm, Ludwig Emil: Lebenserinnerungen des Malerbruders  (Die Andere Bibliothek)

Die besondere Empfehlung: Gritzmann, Eva & Scheck, Denis: Solons Vermächtnis. Vom richtigen Zeitpunkt im Leben (Berlin Verlag)

Harris, Robert: Dictator (Heyne)

Holofernes, Judith: Du bellst vor dem falschen Baum. Tiergedichte mit Illustrationen (Klett-Cotta)

Ishiguro, Kazuo: Der begrabene Riese (Blessing)

James, Henry: Die Europäer (Deutsch von Andrea Ott, Manesse)

King, Lily: Euphoria (C.H. Beck)

Kipling, Rudyard: Kim (Neuübersetzung von Andreas Nohl, Hanser)

Klink, Vincent: Ein Bauch spaziert durch Paris (Rowohlt)

Kopetzky, Steffen: Risiko (Klett-Cotta)

Macdonald, Helen: H wie Habicht (Ullstein)

Macfarlane, Robert & Schalansky, Judith: Karte der Wildnis (Matthes & Seitz)

Maurer, Jörg: Der Tod greift nicht daneben (Scherz)

Milne, A.A.: Pu der Bär (Deutsch von Harry Rowohlt, Omnibus – Taschenbuchverlag für Kinder bei Random House)

Peltzer, Ulrich: Das bessere Leben (S. Fischer)

Politycki, Matthias: 42,195: Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken (Hoffmann und Campe)

Price, Richard: Die Unantastbaren (S. Fischer)

Raddatz, Fritz J.: Jahre mit Ledig. Eine Erinnerung (Rowohlt)

Raulff, Ulrich: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung (C.H. Beck)

Rushdie, Salman: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte (C. Bertelsmann)

Safranski, Rüdiger: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir mit ihr machen (Hanser)

Schami, Rafik: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten (Hanser)

Seel, Daniela: Was weißt du schon von Prärie. Gedichte (Kookbooks)

Steidele, Angela: Rosenstengel (Matthes & Seitz)

Steinfest, Heinrich: Der Allesforscher (Piper, ab 3. Auflage)

Steinfest, Heinrich: Das grüne Rollo (Piper)

Stolterfoht, Ulf: Neu-Jerusalem. Gedicht (Kookbooks)

Thill, Hans: Ratgeber für Zeugleute. Gedichte (Brueterich Press)

Trojanow, Ilija: Macht und Widerstand (S. Fischer)

Wagner, Jan: Regentonnenvariationen (Hanser Berlin)

Welty, Eudora: Der Räuberbräutigam (Klett-Cotta)

Witzel, Frank: Die Erfindung der Roten Armee Faktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 (Matthes & Seitz)

Denis Scheck im Theater Erfurt

Fotos: Holger John, Uwe-Jens Igel

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