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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 30 2014

Andrej Kurkow bei Hugendubel am Anger

Therapeutische Nachtfahrt

Andrej Kurkows Deutsch hat einen ganz eigenen, unverwechselbaren Sound.
Andrej Kurkows Deutsch hat einen ganz eigenen, unverwechselbaren Sound.

Russlandversteher gibt es dieser Tage viele. Einige haben sich selbst dazu ernannt, gegen andere verwenden die politischen Gegner den Begriff als Schmähung. Unkraineversteher dagegen sind entschieden seltener, wohl weil das Wort nicht zum Kampfbegriff taugt. Einer, der weiß, wie es um das zerrissene Land steht, ist Andrej Kurkow. Das geht auch gar nicht anders für einen Schriftsteller, der schon Jahre vor der ganz großen Krise mit spöttisch liebevollen Blick auf seine Landsleute schaute. Magischen Realismus nennt bei der Vorstellung des Autors Herbstlese-Programmchefin Monika Rettig diese Art zu schreiben. Ein treffender Ausdruck.

Kurkow steckt eben mittendrin. Nicht nur in seinem Wohnort Kiew. Er ist oft im Westen des Kontinents unterwegs, er kennt den recht merkwürdigen Blick, den seine Heimat aus dem Zentrum Europas ausgesetzt ist. Der gebürtige Russe ist aber eben auch Teil dieser Minderheit in der Ukraine, dazu ein Vater, der schaut, was die Revolutionen mit seinen Kindern machen.

Natürlich lässt man es sich auch in Erfurt nicht entgehen, einen solchen Kennern zur aktuellen Lage und den Wurzeln der Konflikte zu befragen. Dazu hat sich die Herbstlese Verstärkung geholt. Sergej Lochthofen übernimmt bei Hugendubel den Part des Fragestellers und Stichwortgebers, der, wer will etwas anderes erwarten, auch nicht an der eigenen Meinung spart. Die muss er auch haben, schließlich hat der langjährige Chefredakteur der „Thüringer Allgemeine“ selbst auf der Krim Kunst studiert, sind die historischen Stätten am Rande des Schwarzen Meeres für ihn bis heute Sehnsuchtsort geblieben.

Doch der Abend beschränkt sich bei aller Brisanz der politischen Themen nicht nur auf die Fragen nach Putin und den Neurussländern, nach dem Ausmaß der Korruption im Land oder den Chancen des gerade bei den Wahlen gestärkten prowestlichen Lagers, er bietet auch die Chance, Andrej Kurkow beim Lesen seiner Texte zu lauschen.

Das ist, Politik hin oder her, doch der größere Genuss. Zum einen, weil dieser Autor seinen ganz eigenen Stil gefunden hat, herzlich und doch unverblümt die Zustände der postsowjetischen Ära zu verarbeiten. Lochthofen stellt ihn nicht zu Unrecht in eine Linie mit Gogol und Bulgakow, der Schriftsteller selbst verweist auf die Einflüsse von Daniil Charms. Am Ende ist, was da zum Vortrag kommt, aber doch echter Kurkow. Die Handlung kippt langsam ins absurde, aber so, dass der Leser es spät oder gar nicht bemerkt. Wo sind die Grenzen zwischen täglich Erlebbarem und schwarz-humoriger Parodie? Andrej Kurkow kennt sie genau, denn er weiß sie meisterhaft zu verwischen.

So sitzt er denn vor seinen Lesern, und gibt eine Geschichte zum Besten, die diesen Ansprüchen auf das vortrefflichste genügt. Es geht um einen Fahrt durch die Nacht und den Nebel, am Steuer des Opel Vectra  – mit internationaler Biografie, die seit seiner Montage Ende der 80er Jahre im Prinzip den ganzen Kontinent umspannt – sitzt Taras, der nur unwesentlich älter ist als sein Gefährt, und lässt seinen polnischen Beifahrer mit Hilfe der vielen Schlaglöcher eine, sagen wir mal grenzmedizinische Behandlung angedeihen. Erfolgreich, versteht sich.

All dies trägt Andrej Kurkow unnachahmlich vor. Er liest nicht mit einem eigentlichen russischen Akzent, man glaubt, ein wenig von der Donau zu hören, deren Monarchie ja einst bis an den Ort der Handlung reichte. Das ist in der Tat ein schöner, ein unvergleichlicher Sound, der die Zuhörer akustisch an den Schauplatz der eigenartigen Nachtfahrt teleportiert.

Auf die Art beantwortet die Lesung eine wohlfeile Frage, die, wie erstaunlich, an diesem Abend gar nicht gestellt wird. Gehört die Ukraine zu Europa? Andrej Kurkows Bücher geben die Antwort darauf.

Andrej Kurkow bei Hugendubel am Anger

Fotos: VIADATA

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