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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 08 2020

Eine Ausstellung und ein Gespräch hinterfragen die Mordserie des NSU

Das Trauma der Ermittler

Paula Markerts Foto des Münchner Gerichtssaals während des NSU-Prozesses ist zugleich das Cover ihres Buches.
Paula Markerts Foto des Münchner Gerichtssaals während des NSU-Prozesses ist zugleich das Cover ihres Buches.

Von Sigurd Schwager

Wer dieser Tage, im Oktober 2020,  als neugieriger Gast das Dacherödsche Haus betritt, sollte noch mehr Zeit als sonst mitbringen. Denn schaut man sich im Erdgeschoss genauer um, gelangt man in einen schmucklosen Raum mit ebensolchen Fotografien an den Wänden sowie einigen Textfragmenten. Es ist eine kleine Ausstellung zu einem monströsen Geschehen, die gerade durch ihre karge, sehr zurückgenommene Erzählweise, Leerstellen inklusive, zum konzentrierten Verweilen zwingt. Sie lässt uns teilhaben am Langzeitprojekt einer Hamburger Fotokünstlerin.

Paula Markert, Jahrgang 1982, hat sich über mehrere Jahre intensiv mit der NSU-Mordserie und den Folgen beschäftigt, Dazu ist die Dokumentarfotografin weite Wege übers Land gegangen. Sie porträtiert Menschen und Orte, erlebt Trauer und Wut, zornige Entschlossenheit und tiefe Ratlosigkeit. Wir sehen auf ihren Bildern Hinterbliebene der Mordopfer und Sozialarbeiter, NSU-Fahnder und Anwälte. Ins Blickfeld geraten der Plattenbau-Alltag in Jena und das große NSU-Ermittler-Trauma, die Garage 5 an der Kläranlage Jena. In Kassel führt uns die Fotografin in die Holländische Straße 82 zum Mord-Ort Internetcafe, in dem sich zur Tatzeit ein Verfassungsschützer, Spitzname „Klein Adolf“, befindet. Der Erfurter Rundgang, der mit den „Tagesschau“-Fahndungsfotos von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos begonnen hat, endet schließlich vor der leeren Anklagebank im Schwurgerichtssaal 101 des Oberlandesgerichts München.

Die Spurensuche, von der in Erfurt nur ein Ausschnitt gezeigt wird, gibt es inzwischen als Buch: „Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU“. Einer der Texte daraus, den Paula Markert für die Erfurter Schau ausgewählt hat, stammt von Mario Melzer, der in den 1990er Jahren als junger Polizist zunächst in der Sonderkommission Rechtsextremismus und dann in der Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus in Thüringen tätig ist – und später unfreiwillig untätig bleiben muss. All die Ungereimtheiten, die er miterleben musste, berichtet Melzer, hätten ihn immer mehr zur Kritik bewogen, an seiner Behörde, am LKA und am Verfassungsschutz. Ein traurig stimmender Monolog, der mit dem Satz schließt: „Meine schlimmsten Befürchtungen, die ich mal hatte, sah ich bestätigt.“

Als der Berichterstatter dies liest, ahnt er nicht, dass er dem einstigen Fahnder sogleich begegnen wird: Oben im  Festsaal des Hauses, wo Herbstlese und Böll-Stiftung zu einer Gesprächsrunde geladen haben, sitzt eben jener Mario Melzer linker Hand in der ersten Zuhörer-Reihe. Und man ahnt schon, dass es nicht beim Zuhören bleiben wird.

Es diskutieren Paula Markert und  die Journalistin Jana Simon, eine der Besten der deutschen Reporterzunft. Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau, als dritter Gast vorgesehen, wird schmerzhaft vermisst. Der Ischias-Nerv! Moderator Jochen Voit, Chef der Erfurter Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, schickt beste Genesungswünsche und teilt mit dem Publikum die Hoffnung, dass Schorlau bis zur Erfurter Lesung aus seinem 10. Dengler-Politthriller wieder fit sein möge.
Wie im Buch, so auch am Abend in Erfurt: Der Moderator setzt an den Anfang das Erinnern an die NSU-Opfer, nennt ihre Namen, den Tag und den Ort ihrer Ermordung:


Enver Simsek, 9. September 2000, Nürnberg
Abdurrahim Özüdogru, 13. Juni 2001, Nürnberg
SüleymanTasköprü, 27. Juni 2001, Hamburg
Habil Kilic, 29. August 2001, München
Mehment Turgut, 25. Februar 2004, Rostock
Ismail Yasar, 9. Juni 2005, Nürnberg
Theodoros Boulgarides, 15. Juni 2005, München
Mehmet Kubasik, 4. April 2006, Dortmund
Halit Yozgat, 6. April 2006, Kassel
Michele Kiesewetter , 25. April 2007, Heilbronn


Moderator Voit, der für die Fotografien von Paula Markert das treffende Wort der „Partei ergreifenden Nüchternheit“ findet, möchte von der Künstlerin wissen, wie sie zu dieser NSU-Spurensuche gekommen sei. Sie habe, sagt sie, damals festgestellt, dass sich im Grunde niemand für die Opfer und deren Familien interessiere. Schlimmer noch, jahrelang wurden Opfer und ihre Angehörigen selbst kriminalisiert. Jana Simon kann das aus ihrer eigenen journalistischen Erfahrung bestätigen.

Eklatante Blindheit auf dem rechten Auge, strukturelles Behörden-Versagen auf allen Ebenen, vertuschen und verschleiern... Manches gilt inzwischen als aufgeklärt, vieles bleibt bis heute ungeklärt. Der NSU-Komplex ist ein weites Feld, auf dem man sich leicht verlaufen und an dem man auch verzweifeln kann.

Der Erfurter Abend sucht Akzente zu setzen. Paula Markerts Garagenfoto ist ein solcher. Um es zu verstehen, nimmt Jana Simon das Publikum mit auf eine Zeitreise. Sie schlägt ihr Buch „Unter Druck“ auf, das sie vor einem Jahr schon einmal in diesem Saal vorgestellt hat. In dem Kapitel, das sie vorliest, erinnert sich der Thüringer Staatsschützer Thomas Matczak an den 26. Januar 1988. Damals durchsuchen Polizisten Garagen in Jena nach Sprengstoff. Böhnhardt wird verdächtigt, Bomben zu bauen. In einer von Zschäpe gemieteten Garage findet man tatsächlich Sprengstoff, halbfertige Rohrbomben und Propagandamaterial. Doch verhaftet wird niemand. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe können verschwinden, tauchen unter, werden zu Mördern.

„Matczak ist entsetzt über die Ereignisse vom Januar 1998. Die Durchsuchung ist das Trauma vieler Polizisten, Matczak spürt die Auswirkungen bis heute. Bis heute denkt er darüber nach, warum es damals schiefging. Und bis heute treibt ihn ein Gedanke um: Wäre der 26. Januar 1998 anders verlaufen, vielleicht hätte es den NSU nie gegeben. Vielleicht wären zehn Menschen noch am Leben.“

Als in dem Text von einem Kollegen Matczaks die Rede geht, der intensiv gegen den Thüringer Heimatschutz ermittelt, der Böhnhardt und Zschäpe oft vernommen hat, deutet Jana Simon in Richtung Mario Melzer. Dass man die drei damals laufen ließ, ist auch sein Trauma. Melzer, der in Wolfgang Schorlaus Polithriller „Die schützende Hand“ Vorbild für die Figur des Erfurter LKA-Beamten Marius Brauer ist, übernimmt im Laufe des Erfurter Abends für den abwesenden Schriftsteller die Rolle des dritten Gastes. Von schonungsloser Aufklärung, sagt er, könne nicht die Rede sein. Und er fasst zusammen: „Ermitteln verboten!“ Aber der Mann, der das laute, das bittere Wort nicht scheut, spricht am Ende auch diesen Satz: „Mein Glaube an den Rechtsstaat ist nach wie vor vorhanden.“ 

Annegret Schüle vom Erinnerungsort Topf & Söhne meldet sich abschließend zu Wort. In Erfurt, sagt sie, nehmen die Bemühungen um einen Ort des Gedenkens für die NSU-Opfer Fahrt auf. Die Botschaft hört man wohl im Saal, allein das Publikum teilt auch die leise Skepsis von Moderator Jochen Voit: Wenn man in Erfurt Fahrt aufnimmt, dann kann das dauern.

 

 

 

 

 

 

 

Paula Markert, 
„Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU“
112 Seiten, Broschur, Hartmann Projects Verlag
ISBN: 978-3960700371
28,00 Euro

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