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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 18 2016

Frank Quilitzsch liest aus "Auf der Suche nach Wang Wei" in der Bibliothek am Domplatz

Maos Schattenund Radfahren in China

Die Erfurter Lesung mit TLZ-Redakteur Frank Quilitzsch wurde vom MDR aufgezeichnet.
Die Erfurter Lesung mit TLZ-Redakteur Frank Quilitzsch wurde vom MDR aufgezeichnet.

Es ist Herbst 1989, als der damalige Mitarbeiter der Universität Jena und heutige Journalist und TLZ-Redakteur Frank Quilitzsch nach China reist. In Nanjing soll er tun, was er zuvor in Damaskus getan hat: Studenten in deutscher Sprache und Literatur unterrichten. Ein Vierteljahrhundert später kehrt er für einen kurzen Besuch zurück und schreibt ein Buch über seine Reise zwischen Gestern und Heute. Auszüge eines Gesprächs mit Elena Rauch von der „Thüringer Allgemeinen“.

 

Beginnen wir mit dem ersten Aufenthalt. Ausgerechnet im Herbst 89, ausgerechnet China. Wann hatte sich der Mauerfall bis zu Ihnen herumgesprochen?

Ich glaube, das war am 10. November. Eine Kollegin rief mir zu: Die Mauer ist gefallen! Ich konnte es nicht glauben, schaltete das Radio an. Meine Familie ist im September nach Nanjing aufgebrochen, mit einem mulmigen Gefühl: die vielen Ausreisen, die Botschaftsflüchtlinge - es war ja klar, dass etwas in der Luft lag. In den chinesischen Medien wurde nichts von den Ereignissen in der DDR berichtet, nicht einmal von der Demonstration in Leipzig am 9. Oktober, und die Zeitungen von zu Hause kamen mit zehntägiger Verspätung an.

Gibt es im Rückblick ein Bedauern, die Wende nur aus der Ferne verfolgt zu haben?

Nicht nur im Rückblick. Ich habe einen Filmriss, mir fehlt ein Stück Geschichte. Ich habe den Aufenthalt dann auch nach einem Jahr abgebrochen, eigentlich waren zwei Jahre geplant. Als ich nach Hause zurückkehrte, kam ich aus einer Fremde in eine andere.

Wie haben Sie sich in eine Gesellschaft eingefunden, die kulturell so anders tradiert ist?

Mit Neugier und Unvoreingenommenheit. Zum Teil hat es funktioniert, doch manches ist mir bis heute fremd geblieben. Man muss sein Gesicht wahren unter allen Umständen. Was bedeutet, dass man Fehler nicht eingesteht, schon gar nicht, wenn ein Dritter dabei ist.

Was hofften Sie, nach 25 Jahren in China zu finden?

Ich war neugierig, was sich verändert hat, was aus meinen Studenten geworden ist. Ich hatte neben meinem Tagebuch von damals und meinem alten Fotoalbum ja auch ein Manuskript im Gepäck, das mich nie ganz losgelassen hatte. Es waren die Erinnerungen des Germanistik-Professors Ye Fenghzi an die Jahre der Kulturrevolution, die er mir in langen Gesprächen erzählt hat. Leider ist er inzwischen verstorben. Ich wollte wissen, was mein ehemaliger Abteilungsleiter dazu sagen würde und ob er auch etwas zu erzählen hat. Kaum jemand hatte damals über dieses Thema geredet.

Sie haben Mao in seinem Mausoleum besucht, gleich nach der Ankunft. Lange Warteschlangen?

Sehr lange, immer noch. Es hat mich erstaunt, dass bis heute eine wirkliche Auseinandersetzung mit seiner Person fehlt. Jedenfalls hatte ich das in den Gesprächen so empfunden. Für die Älteren ist er bis heute der große Staatsgründer und revolutionäre Führer.

Und für die Jungen?

Die Jungen, hatte ich das Gefühl, haben andere Sorgen. Sie bewegt auch nicht sonderlich die Frage, wie es um die Demokratie bestellt ist. Auch wenn sich für die Intellektuellen in den vergangenen 25 Jahren vieles verbessert hat, haben sie damit zu tun, ihre Familien zu ernähren und ihr Alter zu sichern.

Haben Sie Ihre einstigen Lebensstätten überhaupt wiedererkannt nach 25 Jahren?

Einige schwer, Nanjing wächst und wuchert wie alle anderen chinesischen Metropolen in einer Weise, dass ich mich manchmal fragte, ob es in der Yangtse-Ebene überhaupt noch Landschaft gibt. Überrascht hat mich dann doch, dass die Umgebung von Nanjing immer noch wunderbar grün ist und man in der Stadt mit etwas Mut auch noch Fahrrad fahren kann.

Ihr kuriosestes Erlebnis?

Dass ich meine ehemalige Studentin Wang Wei, die ich in China suchte, nach meiner Rückkehr in Deutschland traf. Wie sich herausstellte, lebte sie seit Jahren dort, ist fast eine Deutsche geworden, ihre Kinder heißen Paul-Lu und Ron-Emil. Und kurios war auch, dass ich im Mai 2015 aus Shanghai kam und sie bereits auf dem Weg dorthin war. Wang Wei saß in Stuttgart auf gepackten Kisten und Koffern, um ihrem Mann, der für Bosch arbeitet, nach China zu folgen. Wir hatten ganze vier Stunden Zeit, um miteinander zu sprechen.

 

Das vollständige Interview mit Frank Quilitzsch ist am 5. November 2016 in den Wochenend-Beilagen der „Thüringer Allgemeinen“ und der „Thüringischen Landeszeitung“ erschienen.

Frank Quilitzsch in der Stadt- und Regionalbibliothek Erfurt

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