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Erfurter Herbstlese
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Mai 17 2020

Vorgestellt von Willy Römer, Kritischer Zeitgenosse im Vorruhestand

Tom Rachman „Die Unperfekten“

Tom Rachman „Die Unperfekten“
Tom Rachman „Die Unperfekten“

In seinem 1998 erschienenen Roman „Das Magazin“ lässt Hellmuth Karasek einen kleinen Jungen eine ganz große Frage stellen. Wieso, will er wissen, passiert in der Welt immer so viel, wie gerade in die Zeitung passt? Zu den Antworten, die dieses Begehren nach Erkenntnis zwangsläufig nach sich zieht, gehört die: Eine Zeitung ist ein Angebot an die Leser, aus den Themen des Tages, der Woche oder des Monats, die den Redakteuren zur Kenntnis gelangten und die diese interessant fanden oder die sie aus Mangel an Interesse, Kreativität oder einfach nur aus Faulheit dazu erklärten, sich doch das eine oder andere Stück herauszusuchen.

So sollte es sein. Doch die Praxis kann der Theorie im Alltag oft nicht folgen. Niemand hat den hiesigen Ureinwohnern erklärt, wie eine Zeitung zu lesen sei. Was man in einer Zeitung nicht liest, wie gekonnt überblättert oder gleich von hinten begonnen wird, damit kannten sich die Leute bestens aus. Dann wurde vieles anders.

Manche meinen, die Lektüre beginnt mit dem Lokalteil. Warum sie das denken? Weil ihre Mutter sich früher am Frühstückstisch immer den Lokalteil griff, während der Vater hinter den Sportschlagzeilen verschwand? Von den Büchern – so heißen die zusammenliegenden Einzelteile einer Zeitung wirklich – blieb da nur noch das erste. Oder das vierte, das indifferente, je nach Publikation mit vermischten Seiten, Ratgeber und vor allen mit Anzeigen angereicherte Buch. Das aber auch das dritte sein konnte, rein der Sortierung in der Druckerei wegen. 

Die meisten Zeitungsleser werden eine, zumindest latent gefühlte Distanz zu den Zeitungsredaktionen einräumen müssen. Das hat nicht nur mit der Ignoranz und Überheblichkeit auf beiden Seiten zu tun, sondern vor allem damit, dass Leser Zeitungen nicht so konsumieren, wie sie es aus Sicht derer, die sie produzieren, tun sollten.

Bester Ausdruck für dieses Dilemma ist eines der Hauptargumente, dessen sich Abonnenten nach 1990 bedienten, um ihre alte SED-Zeitung abzubestellen. Die Rede war dabei, natürlich, auch davon, was die Herren und Damen Journalisten in den letzten Jahrzehnten so zusammengeschrieben hätten. Der am häufigsten vorgetragene Grund (es stimmt, viele kündigten auch ohne sich zu erklären) war indes: Die Zeitung ist zu dick. Wir schaffen sie nicht mehr. Nicht böse sein und alles Gute. Auf kein Wiedersehen.

Tom Rachman greift in seinem Roman „Die Unperfekten“ dieses Dilemma auf. Eines unter vielen, eines von elf, um genau zu sein. Sein 2010 erschienener Roman erzählt den Untergang einer internationalen Zeitung, die von Rom aus die Welt mit gedruckten Nachrichten versorgt. Eine fiktive Publikation, die gut beschreibt, wie es in einer richtigen zugeht. Besser: zuging. Denn am Ende des Buches ist auch für diese Zeitung Schluss.

Doch bis dahin zeigt Rachman, was eine Redaktion ausmacht. Zwar schildert er das angelsächsische Modell, doch das hat inzwischen mit Großraumbüros und Desks, mit Editoren und dem Verzicht auf alles, was aus Sicht der Geschäftsführungen unnötig kostet, auch in Deutschland eine Heimat gefunden.

Elf Protagonisten, alle auf das Feinste in ihren Schicksalen miteinander verwoben, lässt der Autor auf ihre Zeitung schauen. Da sind der Korrespondent und die Chefredakteurin, der Mann für die Nachrufe, der Chefkorrektor, einige andere noch und – die Leserin.

Nicht irgendeine. Ornella de Monterecchi ist die Frau des italienischen Botschafters in Riad. 1976 hat eine Frau aus dem Westen in Saudi-Arabien nicht mehr zu tun, als auf ihren Mann zu warten. Während die Kinder in der internationalen Schule sind, beginnt Signora die Zeitung zu lesen. „Und weil sie nie gelernt hatte, wie man eine Zeitung richtig liest, las sie alles der Reihe nach wie bei einem Buch, Spalte für Spalte, von links nach rechts, eine Seite nach der anderen.“

Das braucht etwa drei Wochen für eine Tagesausgabe. Ornella de Monterecchi beginnt, in ihrer eigenen Zeit zu leben. Sie bleibt, auch nach ihrer Rückkehr samt aller Zeitungsausgaben nach Rom, bei ihrer konsequenten Praxis. „Nach einem Jahr Zeitungslesen lag sie sechs Monate im Rückstand. (…) Als die Außenwelt in den Neunziger ankam, lernte sie gerade Präsident Reagan kennen. Als die Flugzeuge in die Zwillingstürme krachten, sah sie den Zusammenbruch der Sowjetunion.“ Das ganze Ausmaß der ungeheuerlichen Timeshift fasst Rachman so zusammen: „Heute ist überall draußen Sonntag, der 18. Februar 2007. In Ornellas Wohnung ist noch immer der 23. April 1994.“

Der 23. April, das wird bei der Lektüre schnell klar, ist ein besonderes Datum im Leben der 58-jährigen Italienerin, die am liebsten die Zeit ganz anhalten würde. Details können an dieser Stelle nicht verraten werden, ohne unnötig zu spoilern.

Dafür sei noch eine Sentenz der Dame aus einer Unterhaltung mit dem Hausmädchen zitiert, die für sich spricht: „In Ruanda hat ein Stamm in den letzten zwei Wochen Hunderttausende Leute umgebracht, die zu einem anderen Stamm gehören“, sagt Ornella und schlägt mit dem Handrücken auf die Zeitungsseite. „Wie kann man so schnell so viele Leute umbringen? Nur mal praktisch gesehen, wie geht das? Und wieso stand davon nichts in der Zeitung, während das passiert ist? Wieso erst dann?“

Warum also passiert da draußen immer so viel, wie in die Zeitung passt?

Willy Römer ist Kritischer Zeitgenosse im Vorruhestand und lebt in einem Erfurter Vorort.

 

 

Tom Rachman „Die Unperfekten“
dtv, 400 Seiten, Broschur
ISBN
3423140976
9,90 Euro

 

Das Buch kann unter diesem Link bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel erworben werden.

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