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Nov. 17 2019

Isländische Herbstlese-Premiere mit Yrsa Sigurdardóttir

Mehr Krimiautoren als Mörder

2020 will die Krimi-Bestsellerautorin Yrsa Sigurdardóttir wieder ein Kinderbuch vorlegen. (Foto: Viadata)
2020 will die Krimi-Bestsellerautorin Yrsa Sigurdardóttir wieder ein Kinderbuch vorlegen. (Foto: Viadata)

Von Sigurd Schwager

Die Erfurter Herbstlese, die immer auch eine internationale ist, hat schon viel erlebt. Aber noch nie einen Gast aus Island. Das ändert sich nun: Eingeladen ist die über ihre Heimatinsel hinaus bekannte Kriminalschriftstellerin Yrsa Sigurdardóttir.

Für diese Premiere im Hause Dacheröden hatte der kluge Zufall schon einmal symbolisch den blauweißroten Teppich ausgerollt. Genau dort, wo jetzt die Isländerin sitzt, saß vor gut zwei Wochen ihr österreichischer Kollege Heinrich Steinfest und präsentierte mit sprachlicher Eleganz und feinem Humor den fünften Fall des einarmigen Wiener Detektivs Cheng. Ein Schauplatz des neuen Steinfest-Buches ist nämlich Yrsa Sigurdardóttirs Geburtsstadt Reykjavik, wo im Konzerthaus Harpa ein Mensch von hoch oben Cheng vor die Füße stürzt. „Der Mann lag da. Sein Totsein war keine Frage.“

Der leitende Beamte, ein Schweizer, befragt Cheng und wir lesen: „Henzli verwies darauf, dass die offizielle Mordrate in Island pro 100.000 Einwohner in den letzten Jahren zumeist bei 0,3 gelegen habe, was dann genau einen Ermordeten im Jahr für alle Isländer ergebe. Das sei zwar immer noch mehr als in Monaco und Liechtenstein, aber sicherlich nicht so bedrohlich, wie es wäre, sich als Figur durch einen isländischen Kriminalroman zu bewegen. ‚Manchmal‘, sagte er, ‚ist die Realität ein Segen. Ein Toter ist nicht viel‘, bestätigte Cheng. ‚Außer man ist selbst der Tote.‘ (...) ‚Das sollte für dieses Jahr genügen,‘ meinte Henzli und startete seinen Wagen.

Später würde Cheng genau diese Statistik der Tötungsraten nach Ländern aufrufen und sich fragen, wieso nicht mehr Kriminalromane in Honduras spielten. Ein Ort, der über eine Rate von 90,4 verfügte. Oder auf den Amerikanischen Jungferninseln, wo zwar wenige Leute lebten, dafür aber viele Mörder. Mehr Mörder als Schriftsteller? Während ja umgekehrt in Island eindeutig mehr Schriftsteller als Mörder zu Hause waren.“

Diese Passage aus „Der schlaflose Cheng“ wäre das ideale Vorspiel für den Abend mit Yrsa Sigurdardóttir, weil Krimifachfrau Antje Deistler im Dialog mit ihr den gleichen Island-Gesprächsfaden spinnt: auf der einen Seite das sicherste und friedlichste Land der Welt, keine Armee und keine hoch bewaffnete Polizei, die Haustüren nur selten verriegelt, und andererseits die Armada der Autoren mit ihren mörderischen Geschichten. Wenn man gerade nicht Blutrünstiges liest, schaut man Verbrechen in Serie, aktuell „Trapped II. Gefangen in Island“ Eine dritte Staffel steht in Aussicht. So richtig erklären kann auch Yrsa Sigurdardóttir den Widerspruch nicht, aber vielleicht ist es ja auch nur ein vermeintlicher.

Humorvoll erzählt die Bestsellerautorin in Erfurt nicht nur Episoden aus dem Polizei- und Kriminellenalltag, es fehlt auch nicht an praktischer Länder- und Namenskunde. Dass der Nachname zumeist vom Vater stamme, sie also Sigurdars Tochter sei, und dass man für die Anrede den Vornamen wähle. Auch die Telefonbücher, sagt sie, würden in Island nach Vornamen sortiert.

Yrsa, Jahrgang 1963, verheiratet, zwei Kinder, ist studierte Ingenieurin, und als solche arbeitet sie noch immer, allerdings in Teilzeit. Sie wolle damit auch nicht aufhören, erzählt sie. Nur schreiben, sei ihr zu einsam, sie brauche Kommunikation. Erst hat sie Kinderbücher geschrieben, später dann Krimis. Das Pensum ist beachtlich. Seit 2005 erschien ein Dutzend Romane, darunter sind sechs mit ihrer Serienheldin, der Rechtsanwältin Dora Gudmundsdóttir, sowie drei, in denen Kommissar Hulder und Kinderpsychologin Freyja ermitteln.

Beide begegnen uns in ihrem jüngsten Buch „R.I.P.“. Der Inhalt verheißt nichts Gutes für Islands Statistik: Zwei Jugendliche werden ermordet, ein Junge wird vermisst. Hulder und Freyja müssen den Mörder finden, bevor er wieder zuschlägt.
Das zahlreich erschienene Publikum erlebt einen  Novemberabend, der auch sprachlich eine Menge zu bieten hat: Die Moderatorin befragt die Autorin, die deutsch versteht, aber kaum spricht, auf Englisch und übersetzt die Antworten ins Deutsche. Außerdem liest Yrsa Sigurdardóttir aus ihrem Buch ein Stück auf Isländisch vor, was die Zuhörer mit Szenenapplaus quittieren. Für die längeren Lesestücke ist allerdings ein Schauspieler zuständig: Sönke Möhring. Der jüngere Bruder von Wotan Wilke Möhring meistert seinen Part gekonnt und nimmt zudem auch lebhaft am Gespräch teil.

Zum Ende hin berichtet die Autorin, dass Sie 2020 ein Kinderbuch schreiben werde. Was nicht bedeutet, dass sich die erwachsenen Krimifans, auf eine längere Lesepause einstellen müssen. An Islands Schreibtischen wird fleißig weiter gemordet. Die drei nächsten Fälle von Hulder und Freyja sind bereits abgeschlossen. Fazit im Haus Dacheröden: Premiere gelungen! Das dafür zuständige Trio erhält viel Beifall.

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