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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 20 2022

Vorgestellt von Anke Engelmann, Schriftstellerin, Journalistin und Dozentin

Juliane Stückrad „Die Unmutigen, die Mutigen"

Juliane Stückrad „Die Unmutigen, die Mutigen"
Juliane Stückrad „Die Unmutigen, die Mutigen"

Feldforschung in der Mitte Deutschlands

Ende Dezember 2022 schließt in Erfurt das Puppenstubenmuseum, eine private Einrichtung. Die Exponate, liebevoll zusammengetragen, werden verkauft und in alle Winde verstreut und der jahrelange Kraftakt des ehrenamtlichen Engagements wird obsolet. Als ich diese Meldung las, dachte ich an Juliane Stückrad und ihr ethnologisches Interesse für Heimatmuseen in Ostdeutschland. Ihre Beobachtungen hat sie in dem Buch: »Die Unmutigen, die Mutigen« zusammengefasst, das 2022 im Kanon-Verlag Berlin erschienen ist.

Im Zuge der »Decolonize«-Auseinandersetzungen wird die Ethnologie von manchen als Wissenschaft betrachtet, die im Schlepptau kolonialer Eroberung und Ausbeutung hängt. Ebenso suspekt ist der Forschungsgegenstand aus der Anfangszeit dieser Wissenschaft: ferne Länder, fremdartige Menschen mit exotischen Kultgegenständen und Bräuchen.

Stückrads Ansatz ist einfach: Sie verlagert den Schwerpunkt ihrer Forschung von Peru vor ihre Haustür, nach Mecklenburg, Sachsen, Brandenburg und Thüringen – ethnografie at home. Mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung betrachtet sie in vermeintlich abgehängten Regionen Ostdeutschlands Orte sozialer Zusammenkunft: Heimatmuseen, Kirchen, das Eisenacher Theater, und sie hört den Unmutigen beim Schimpfen zu.

Die Recherche über das vermeintliche Dauernölen der Ossis prägt den ersten Teil des Buches. Stückrad hört sich auf Anti-Hartz-Demos um, spricht mit Leuten an Kneipentresen und bei Dorffesten, mit Pfarrern und Mitgliedern christlicher Gemeinden. Gehört das Jammern zur Mentalität der Ostdeutschen? Woher kommen Stereotype wie vom Jammerossi und vom Besserwessi, vor welchem Hintergrund sind sie entstanden?

Mit scharfem Blick sieht Stückrad reales Leid hinter dem Unmut. Menschen, Regionen, die in der Transformation nach der Wende auf der Strecke geblieben sind. Massenarbeitslosigkeit und der Verlust von Sinnhaftigkeit, Zusammenhalt und Gemeinschaft, auch wenn die nur aus Not entstanden waren. Sie beschreibt, wie nach der Wende viele die Ostdeutschen als Mängelwesen gesehen haben, die sich den Normen der westdeutschen Leistungsgesellschaft erst anpassen müssen, und beschreibt auch, welche Spuren das bei den Betroffenen hinterlassen hat. Sie beschreibt Eingemeindungen und Bürokratisierung und den Verlust von Gemeinderäumen und Treffpunkten.

Darunter sind auch viele Heimatmuseen, die in der Nachwendezeit von ehemals stolzen und schließlich arbeitslosen Industriearbeitern aufgebaut wurden. ABM-Gelder sollten den Verlust der Arbeitsplätze kompensieren. Eindrücklich schildert die Ethnologin, wie das gemeinsame Projekt die Menschen zusammenbringt und ihnen wieder eine Geschichte gibt. Deutlich wird, welche Verluste der Strukturwandel gebracht hat und mit welchen Strategien vor allem Menschen im ländlichen Raum damit umgehen.

Eine schwere Aufgabe, Vertrautes mit den Augen einer Fremden zu betrachten. Stückrad schafft es, indem sie – methodisch sauber – penibel ihre eigenen Gefühle im »Feld« reflektiert und sich immer wieder bewusst macht, dass allein ihre Anwesenheit und ihr Interesse die Reaktionen ihrer Gesprächspartner verändern. Damit trägt sie zur Rehabilitation der Ethnologie bei und zeigt, dass sie ein methodisches Besteck entwickelt hat, mit dem sich arbeiten lässt.

Vor allem aber erzählt sie die Geschichte der Wende und ihrer Folgen für die Bewohner des untergegangenen Landes. Da sie das nicht in literarischer Form tut und somit eine Identifizierung weitgehend ausgeschlossen ist, hat man das Gefühl, immer wieder auf Schätze zu stoßen. Anekdoten, Zitate. Alte Animositäten, neue Freundschaften. Methodisches und Reflektiertes. Keine Schwarzweiß-Malerei, keine Wir-sind-das-Volk-Romantik. Dafür Geschichten vom täglichen Mut, unprätentiös und ohne Heldenpathos; vom Kampf gegen Zuschreibungen, Vorurteile, Nicht-Wahrgenommen-Werden und überbordender Bürokratie.

Man liest auch von Ermächtigung, von gemeinsam organisierten Dorffesten, von Engagement und Erfolgen. Kaum wundert es, dass die Wissenschaftlerin schließlich ihre neutrale Position verlässt und sich in einem Verein für den Erhalt des Eisenacher Theaters stark macht. Inzwischen sitzt Juliane Stückrad im Stadtrat der Wartburgstadt. Ihren ethnologischen Blick hat sie sich bewahrt. »Die Kommunalpolitik ist ein ergiebiges volkskundliches Forschungsfeld«, schreibt sie in ihrem Buch. Das glaubt man gern.

 

Vorgestellt von Anke Engelmann, Schriftstellerin, Journalistin und Dozentin für kreatives Schreiben


 

Juliane Stückrad „Die Unmutigen, die Mutigen"
Kanon Verlag
ISBN 9783985680450
24,00 €

 

Das Buch kann unter diesem Link bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel erworben werden.

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