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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Mai 25 2020

Vorgestellt von Michael Helbing, Kulturredakteur

Nancy Hünger „4 Uhr kommt der Hund“

Nancy Hünger „4 Uhr kommt der Hund“
Nancy Hünger „4 Uhr kommt der Hund“

Nein, das ist gerade definitiv keine günstige Zeit zum Schreiben. „Es herrscht eine große Sprachlosigkeit“, sagt die Dichterin Nancy Hünger am Telefon und spricht von Beobachtungen im Kollegenkreis. Außerdem sind vielfach die existenziellen Sorgen einfach zu groß. Sie selbst ist „gottseidank“ durch ihre halbe Stelle in Schillers Gartenhaus in Jena grundgesichert.

Eine Viel- und Schnellschreiberin war sie ohnehin nie. Es gab immer große Pausen. In jener, die sich die Gesellschaft jüngst auferlegte, um einer Pandemie irgendwie Herr zu werden, hat sie „in erster Linie mit dem Denken zu tun“. Was das konzentrierte Lesen einschließt. Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ zum Beispiel. „Sehr aufschlussreich!“

Man sei jetzt extrem genötigt, die eigene Gegenwart zu begreifen. Das versucht Nancy Hünger in Gotha, wohin es die Weimarerin, die lange Zeit in Erfurt zu Hause war, auf der Suche nach einem ruhigeren Ort zum Leben inzwischen verschlug. „Mir war Erfurt zu groß und zu laut geworden, was für Großstädter bestimmt lächerlich klingen mag.“ Aber Gotha ist „perfekt“. Klein, nicht zu klein, viel Grün, ein bisschen Infrastruktur, eine gute Zuganbindung nach Jena und in den Rest der Welt. Sie ist viel auf Reisen. Unter normalen Umständen.

Hätten wir diese noch, längst wäre „der ganze Lesezirkus losgegangen“, beginnend mit Leipzigs Buchmesse. Dort wollte Helge Pfannenschmidts einst in Jena entstandene Edition Azur, nach soeben in Dresden erfolgter „Liebesheirat“ mit dem Verlag Voland & Quist, Hüngers neuen Text vorstellen. Wäre es dazu und zu allen Folgeterminen gekommen, wüsste die Dichterin, wie es sein würde, ihn vorzutragen. So aber antwortet sie melancholisch heiter auf die entsprechende Frage: „Das frage ich mich auch!“

Denn „4 Uhr kommt der Hund“ ist, laut Hüngers Gattungserfindung, „ein unglückliches Sprechen“ ohne Punkt und Komma, auch ohne Anfang und Ende im Grunde, inhaltlich und formal ein Text, der von Haltlosigkeit kündet, ohne aber literarisch jemals haltlos zu werden. Das ist lyrische Prosa und prosaische Lyrik, vom ersten Wort abgesehen durchgängig kleingeschrieben. Fließende Verse, die pro Seite mal nur eine, mal sehr wenige Zeilen beanspruchen, die jedenfalls selten nur über mehr als eine halbe Seite ausufern. Ausdruck einer kontinuierlichen Spracharbeit, gilt diese suchende und findende Ästhetik doch ganz ihrem konkreten, zugleich aber kaum fassbaren Gegenstand.

Der tut sich zwischen Liebe und Tod auf wie ein tiefer Graben, aus dem ein schwarzer Hund aufsteigt: seit Winston Churchill ein durch Zustandsbeschreibungen und Therapieerzählungen geisterndes Symboltier für Depressionen. Hier nagt es gleichsam an Haut und Knochen, an Leib und Seele, und führt eine Frau „auf mein fröhliches ende zu“.

Nancy Hünger wüsste sehr gerne sehr viel besser, woher Depressionen kommen. Sie hat eine Menge darüber gelesen und ist am Ende aller Lektüren „immer noch fast so ratlos wie zu Beginn“. Sie fragt nach den gesellschaftlichen Anteilen an einem solchem Zustand eines Einzelnen: der sich selbst vereinzelt, aber auch vereinzelt wird.

Und sie gelangt dabei zu Formulierungen wie „diese große alleinsamkeit“: ein Widerspruch ja insofern, als man allein sein kann, ohne einsam zu werden, derweil Einsamkeit auch in Gesellschaft erlebbar ist. Nancy Hünger weitet ihr Wort deshalb zur All-Einsamkeit, zum „Verlorensein in der Welt an sich".

So verloren erlebt sich wohl auch, wer nicht aufhört, „die Liebe als Wert zu bejahen“. Dieses „trotz alledem“ aus Roland Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Liebe“, diese „Stimme des Unheilbar-Liebenden“, wie es in jener Textstelle weiter heißen würde, stellt Hünger ihrem Text unter anderem voran.

Das ringt mit der Stimme der Vernunft, die auf die innerlich monologisierende Erzählerin im Krankenbett einer geschlossenen Abteilung einredet. Sie hatte sich verliebt, demnach „also daneben geliebt“. Diese Frau hatte wohl eine Affäre mit einem verheirateten Mann („wenn du zur frau gehst vergiß die geliebte nicht“) und rutschte aus der Glut in Eiseskälte ab. Dort novembert sie, um ein Wort dieser Dichtung aufzunehmen, vor sich hin.

Das ist der Preis. Doch soll sie jetzt etwa lernen, vernünftig zu lieben, berechenbar und berechnend, im Dienst der Schmerzvermeidung? Soll alles andere nur Ausdruck frühkindlichen Mangels sein, ein Fall für Psychotherapie oder Psychiatrie? Das hieße wohl, der Erich Fried in uns wäre heilbar: Es ist, was es ist, sagt die Liebe? Dergleichen wäre dann stets „eine massive fehlleistung“, von der die Ein- und Ausgelieferte hier reden hört.

Dagegen steht die Verweigerungshaltung eines Roland Barthes. Dieser „unerschütterliche Glaube wider besseren Wissens“ hat Nancy Hünger schon immer fasziniert, mit allem Wohl und Wehe. Sie reklamiert ihn auch für die Poesie selbst und ist sich dabei durchaus der Gefahr ihres Alter Egos bewusst, dass es „ganz in poesie emigriere was einer zunehmenden lebensuntauglichkeit gleichkäme". Nancy Hünger denkt beispielsweise an Ingeborg Bachmann, der eine der vielen Anspielungen in ihrem Band gilt. Der hier mäandernde Hans, Name aller Männer schlechthin, ist Bachmanns „Undine geht“ entliehen.

Die äußere und in Teilen verinnerlichte Stimme der Vernunft – profanisiert, entpoetisiert, pathologisiert – verlangt in diesem Buch nach Heilung. Die Stimme des Unheilbar-Liebenden nicht unbedingt. Ein ordentlicher Untergang, ahnen wir, wäre doch auch was wert.

Doch jede Festlegung in diesem brüchigen Fließtext, und somit auch jedes Sterben darin, bleibt ohnehin vorläufig und veränderlich. Das spielt mit Leerstellen des Ungesagten und des Unsagbaren. So wie die surrealen Zeichnungen aus dem Fundus des Leipziger Künstlers Tommy Reinhardt, die für den Text ausgewählt wurden. „Er schien mir von Anfang an die perfekte Besetzung, weil er eine ähnliche Welt mit anderen Mitteln beschreibt“, sagt Hünger über ihren ehemaligen Kommilitonen; beide studierten einst Freie Kunst in Weimar.

Man kann dieses schmale Buch vergleichsweise schnell beenden. Fertig wird man damit aber im Grunde nie.

Michael Helbing ist Kulturredakteur bei der Mediengruppe Thüringen.
Diese Rezension erschien zunächst am 12. Mai 2020 in der „Thüringer Allgemeine“.

 

 

Nancy Hünger
„4 Uhr kommt der Hund: Ein unglückliches Sprechen“
Voland & Quist, edition AZUR, 88 Seiten, Taschenbuch
ISBN 978-3942375436
19,00 Euro

 

Das Buch kann unter diesem Link bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel erworben werden.

 

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