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Jan. 28 2019

Christina Links und Ingo Schulze stellen das unzensierte Blockadetagebuch von Granin und Adamowitsch vor

900 Tage Leiden in Leningrad

Christina Links und Ingo Schulze stand bei der Buchvorstellung in Erfurt TA-Redakteur Hanno Müller zur Seite.
Christina Links und Ingo Schulze stand bei der Buchvorstellung in Erfurt TA-Redakteur Hanno Müller zur Seite.

Bis heute ist die Geschichte der Blockade von Leningrad weniger bekannt als die Geschichte von Auschwitz oder Buchenwald. „Die Schuld Hitlers und der deutschen Wehrmacht an diesem monströsen Verbrechen mit einer Million Toten ist 75 Jahre nach Belagerungsende immer noch nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein in Deutschland angekommen, sagte der Schriftsteller Ingo Schulze bei der Vorstellung des "Blockadetagebuchs" im Kultur: Haus Dacheröden.

Das Kultur:Haus Dacheröden hatte zu Lesung und Gespräch rund um das „Blockadebuch“ von Daniil Granin und Ales Adamowitsch eingeladen. Beide Schriftsteller hatten in den 1970er Jahren mit Überlebenden gesprochen. „Die erschütternden Erinnerungen an Hunger, Krankheiten und Tod veränderten das bis dahin vorherrschende Bild von der Blockade als Heldengeschichte“, sagte die Übersetzerin und Dramaturgin Christina Links. Das Buch konnte damals nur zensiert erscheinen. Dass derzeit in Deutschland überhaupt an den 75. Jahrestag erinnert werde, sei dem Aufbau-Verlag und der dort erstmals vorgelegten unzensierten Ausgabe des „Blockadebuches“ zu verdanken, so Links. Seit den 1980ern arbeitete sie als Lektorin beim DDR-Verlag „Volk und Welt“, wo seinerzeit die einzige deutsche Ausgabe des „Blockadebuches“ erschienen war.

Wie in der Sowjetunion waren auch in der DDR Kapitel über Kannibalismus und die stalinistische Verfolgung und Ermordung von Leningrader Funktionären nach Kriegsende gestrichen worden. Es sei gut, dass man das Buch jetzt vollständig lesen kann, sagte Christina Links. „Trotz Zensur öffnete die Authentizität des Buches schon damals vielen die Augen über die Dimensionen des Verbrechens und über die Kraft von Kultur und Menschlichkeit“, so Links.

Ingo Schulze, der das Vorwort zur Neuausgabe schrieb, erinnerte an die Kriege der jüngeren Zeit. „Belagerungen wie die Sarajevos im Balkankrieg zeigen: Die Blockade ist keine Vergangenheit. Die Blockadebücher aus Syrien, Irak oder Jemen stehen noch aus“, sagte der Schriftsteller.

Beide Gesprächspartner lobten den Bundestag, der Daniil Granin 2014 am Holocaustgedenktag, der auch Jahrestag der Befreiung Leningrads ist, zu einer Rede über die Blockade eingeladen hatte. „Man kann beide Verbrechen nicht voneinander trennen. Die gleiche besondere Verantwortung wie gegenüber Israel müssen wir auch in Richtung Osten übernehmen“, sagte Ingo Schulze.
 

Über das Buch

Mehr als eine Millionen Tote. Von Hunger, Kälte, Krankheiten, Kraftlosigkeit und Todesangst gezeichnete Menschen. Kinder, die im Bombenhagel in kurzer Zeit zu Greisen wurden. Erwachsene, die in unmenschliche Abgründe blickten. Zweieinhalb Jahre oder 900 Tage dauerte die Blockade von Leningrad durch die Wehrmacht. Erklärtes Ziel Hitlers war es, die Stadt vom Antlitz der Erde zu tilgen und die Bevölkerung komplett auszulöschen.

Am 27. Januar 1944, genau ein Jahr vor der Befreiung des KZ Auschwitz, gelang der Roten Armee die Durchbrechung der Belagerung. Wer das Martyrium überlebte, wurde die traumatischen Erfahrungen nicht mehr los. In der Sowjetunion der Nachkriegszeit aber war nur Platz für das Heldenepos des Widerstandes. Bis die russischen Schriftsteller Daniil Granin und Ales Adamowitsch ihr „Blockadebuch“ veröffentlichten. Ende der 1970er begannen sie, dafür Hunderte Überlebende zu befragen.

Bis dahin habe er gedacht, schon alles über die Blockade zu wissen, sagte Granin 2014 zum 70. Jahrestag des Blockade-Endes bei einer vielbeachteten Rede im Deutschen Bundestag. Als Soldat lag er selbst im Schützengraben vor der eingeschlossenen Stadt. Für die Befragten sei es ein erzwungener Heroismus gewesen. „Das wahre Heldentum ... war jenes, das sich in den Familien, in den Wohnungen abspielte, wo die Menschen litten, fluchten und starben, wo es zu unwahrscheinlichen Taten kam, die Hunger Kälte und Beschuss verursachten“, so Granin. Die Blockade sei nicht die Geschichte von 900 Tagen voller Heldentaten, sondern von 900 Tagen voller unerträglicher Leiden gewesen. Erscheinen konnte das „Blockadebuch“ 1981 nur nach erheblichen Eingriffen der Zensur. Die DDR-Ausgabe folgte 1984 bei Volk und Welt. Ales Adamowitsch starb 1994, Daniil Granin 2017.

Um so verdienstvoller ist die erste vollständige Ausgabe, die der Aufbau-Verlag in deutscher Sprache vorgelegt hat. Das russische Original war 2014 bei Lenisdat in St. Petersburg erschienen und wurde von Natalia Adamowitsch herausgegeben. Auf 700 Seiten wird der „andere Holocaust“ als ein Epos menschlichen Leidens erzählt. Da ist die Geschichte des Mädchens, das sich vergiftete, nachdem die Mutter die Hauskatze ausweidete. Da ist die Schülerin Tanja Sawitschewa, die als „Leningrader Anne Frank“ zum Symbol der Blockade wurde. In ihrem Tagebuch finden die Autoren Zeilen wie diese: „Onkel Ljoschka am 10. Mai um 4 Uhr nachmittags 1942. Mutter am 13., Mai um 7.30 Uhr vormittags 1942. Alle sind gestorben. Nur Tanja ist geblieben.“ Auch sie stirbt 1944 an den Folgen der Blockade.

Daneben finden sich Beispiele bewegender Solidarität und des trotzigen Beharren auf Geist, Kultur und Kunst. Wieder aufgenommen sind im Buch die von der Zensur verbotenen Kapitel über Kannibalismus und über die „Leningrader Affäre“, in deren Verlauf Ende der 1940er-Jahre viele Leningrader Funktionäre aus der Blockadezeit kriminalisiert und entweder ermordet wurden oder spurlos verschwanden.

Dieser Beitrag beruht auf zwei Artikeln, die zunächst in der "Thüringer Allgemeinen" erschienen.

Das Blockadetagebuch

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