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Erfurter Herbstlese
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Mai 05 2017

Henning Scherf im Haus Dacheröden: Das letzte Tabu - Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen

Auch der Tod braucht etwas Besseres

Henning Scherf nennt sich selbst einen "Umarmer". Der SPD-Politiker findet leicht Zugang  zu den Menschen - auch beim schwierigen Thema Abschied und Tod.
Henning Scherf nennt sich selbst einen "Umarmer". Der SPD-Politiker findet leicht Zugang zu den Menschen - auch beim schwierigen Thema Abschied und Tod.

Von Sigurd Schwager

So endlich unser Leben, so unendlich die Betrachtungen und Bücher zu diesem Thema. Wenn also der Erfurter Herbstlese-Verein zu einem Abend über das Sterben in das schöne alte Haus Dacheröden einlädt, dann wird man zur Einstimmung rasch fündig bei all den Berühmtheiten, die hier schon weilten und verweilten.

 „Der Tod, gefürchtet oder ungefürchtet“, hören wir von Goethe, „kommt unaufhaltsam.“

„Alle Pfade, die zum Leben führen“, lesen wir bei Schiller, „alle führen zum gewissen Grab.“

Sterblich sind wir“, predigt Herder, „und sterblich sind all unsere Wünsche.“

„Das Verlassen dieses Lebens steht gewiss“, schreibt Wilhelm von Humboldt.

Und Wieland tröstet uns: „Auch sterben ist an deinem Herzen süß.“

Der prominente Dacherödsche Gast im Frühling 2017 ist kein Dichter, auch wenn Henning Scherf, der langjährige Bürgermeister seiner Geburtsstadt Bremen, nach der Berufspolitikerkarriere einige Sachbuchbestseller geschrieben hat. Sein jüngstes, gemeinsam mit der Sozialwissenschaftlerin Annelie Keil verfasstes Werk heißt „Das letzte Tabu“ und erklärt die Autorenabsicht deutlich im Untertitel: „Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen“.

Das richtige Alter dafür hat Dr. jur. Hennig Scherf, denn er ist jetzt 78 und steht damit direkt an der Lebenszeit-Grenze, die die aktuelle Statistik für den deutschen Durchschnittsmann zieht. Aber mit Durchschnitt wird man ihm natürlich nicht gerecht. Günter Gaus hat sein politisches Werden 2004 so beschrieben: „Er war in seiner Jugend ein bekennender Linker in der SPD - der Bürgermeister Scherf hat inzwischen pragmatische Einsichten.“

Und vor allem: Erfolg. Er ist als Bürgermeister äußerst populär. Seine Beliebtheitswerte liegen stets deutlich über denen seiner Partei und Regierung. In Erfurt wird er vergnügt erzählen, dass ihn Herbert Wehner einst Pietcong genannt habe. Scherf, der Radikale, der protestantische Christ, geboren ausgerechnet an einem 31. Oktober.

Ex-Pietcong Scherf, das merkt das Erfurter Publikum schon nach wenigen Worten und Gesten, hat die natürliche Gabe, mit seiner offenen, sympathischen Art Menschen anzusprechen, Nähe herzustellen und Vertrauen zu schaffen. Fröhlichkeit und Ernsthaftigkeit schließen einander nicht aus. Der sportliche Mann mit dem Basketballer-Gardemaß von zwei Meter und vier weiß selbstverständlich um seine großen Möglichkeiten als „Umarmer“ und „Omaknutscher“. Der Karnevalsredner Scherf hat sich in Aachen bei der Ordensverleihung wider den tierischen Ernst selbst so bespöttelt.

Jetzt in Erfurt liest Henning Scherf das Bremer Autoren-Vorwort (und braucht dafür keine Brille): „Etwas Besseres als den Tod findest Du überall, sagen sich im bekannten Märchen die vier alten Tiere, deren Besitzer meinen, dass sie im Alter nicht mehr nützlich seien, und hauen ab. Recht hatten sie! Mit ihrem Aufbruch, Zusammenhalt und Lebensmut schaffen sie, was unmöglich schien.

Seit über 40 Jahren leben und arbeiten wir in diesem Sinn als Bremer Stadtmusikanten . . . Auch der Tod braucht etwas Besseres, finden wir, nämlich Menschen, die sich am Lebensende auf ihn einstellen und ihren Abschied leben lernen . . . Gemeinsam möchten wir allen Mut machen . . .“ Mut machen. Das ist das Schlüsselwort des Buches und des Abends.

Von der Privatheit kommt Scherf dann zur öffentlichen Trauer um tote Flüchtlinge. Er zitierte Annelie Keil: Wir Europäer brauchen Orte und Formen auch für unsere Trauer über die vielen Toten, die auf der Flucht zu uns zu Tode gekommen sind. Dem Versuch, etwas zu finden, womit wir unser Entsetzen, unsere Verzweiflung und unsere Hilflosigkeit über das tägliche Sterben im Mittelmeer artikulieren können, folgt das Kapitel „Die Endlichkeit aushalten“ sowie eine längere Betrachtung über Abschiedlichkeit und Verantwortungsethik, mündend in einer tiefen Verneigung vor Nelson Mandela.

Bei aller philosophischer Nachdenklichkeit wird es keine akademische Veranstaltung. Das Eigene, das Persönliche in seinen Höhen und Tiefen prägt das Buch, und im Gespräch mit dem Erfurter SPD-Bundestagsabgeordneten Carsten Schneider erlebt man Scherf als pointierten und klugen Erzähler, der seine Kraft aus einem reichen Erfahrungsschatz auch außerhalb der Politik schöpft.

57 Jahre verheiratet mit derselben Frau, drei Kinder, neun Enkel, ein gelungenes Zusammenleben seit nunmehr 30 Jahren in Deutschlands vielleicht berühmtester Haus- und Wohngemeinschaft in Bremen. Man hört gebannt zu und spürt förmlich die Kraft der Gemeinschaft in guten wie in schlimmen Zeiten. Das Bremer Modell, sagt er, sei aber nur eine von vielen Antworten auf die Frage, wie man frühzeitig den Abschied leben lernt. Wichtig sei, dass man nicht allein bleibe.

Er berichtet auch von der neuen Bewohnerin im Haus. Die junge Afrikanerin ist mit ihren drei kleinen Kindern dem Tod durch Flucht entronnen.  Die Kleinen, sagt er, seien ihm ans Herz gewachsen wie die eigenen Enkel. „Das erlebe ich als Glück.“

Viele Fragen muss Henning Scherf beantworten. Die nach dem Glück gehört dazu, ebenso die zu Sterbehilfe und Palliativmedizin. Wie möchte ich sterben? Wo möchte ich sterben? Wer kann mich dabei begleiten? Scherfs Worte sind ein Plädoyer gegen Alterseinsamkeit und gegen das Verdrängen. Denn Menschen sollten am Ende ihres Weges nicht allein gelassen werden. Dies wiederum bedarf einer guten Organisation der letzten Dinge.

Die Zuhörer danken Henning Scherf und Carsten Schneider mit herzlichem Beifall für den intensiven Abend - Fortsetzung sehr erwünscht.

Auch der Tod braucht etwas Besseres

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