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Erfurter Herbstlese
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Nov. 21 2017

Ingo Schulze stellt sein amüsantes Schelmenstück „Peter Holtz“ in der Buchhandlung Hugendubel vor

Brennendes Geld

Die meisten Kritiker sind des Lobes voll für Ingo Schulzes „Peter Holtz“.
Die meisten Kritiker sind des Lobes voll für Ingo Schulzes „Peter Holtz“.

Von Sigurd Schwager

Dicke Bücher sind wie geschaffen für die dunkle, kalte Jahreszeit, und so schlägt denn auch zur Herbstlese 2017 immer wieder die Stunde der Wälzer. 488 Seiten Val McDermid, 583 Seiten Gregor Gysi, 672 Seiten Birk Meinhardt, 703 Seiten Deon Meyer, 815 Seiten Hartmut Rosa . . .

Der letzte Wälzer von Herbstlese-Gast Ingo Schulze zählt 571 Seiten und heißt „Peter Holtz - sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“. Mit diesem neuen Buch lernen wir eine ganz neue literarische Seite des erprobten Dichters kennen, denn er überrascht seine Leser mit einem deutsch-deutschen Schelmenroman. Darin gibt ein reiner Tor, der allzeit nur an das Gute glaubt, Kunde von seinem Leben vor und nach 1989, zusammengefasst in der Frage: Vom Waisenkind zum Millionär - wie konnte das so schiefgehen?

Ein amüsantes Schelmenstück ist Schulze da geglückt. Nicht alle, aber doch sehr viele Kritiker sind des Lobes voll, scheuen auch Pirouetten nicht. Für den einen ist dieser Peter Holtz ein Simplicissimus des Ostens, für den anderen ein Homunkulus des Sozialismus, der in den Kapitalismus geschickt wird. Der dritte nennt ihn einen DDR-Träumerling und der nächste einen ostdeutschen Forest Gump.

Zu den einschlägigen  Vermutungen und Vergleichen hat sich Ingo Schulze ausführlich in Interviews geäußert, und auch auf der gut besuchten Herbstlese-Veranstaltung in der Erfurter Buchhandlung Hugendubel geht er darauf ein. Berichtet von seinen Anleihen bei Ilja Ehrenburg und vor allem bei Grimmelshausen, an dessen Simplicius Simplicissimus sowieso keiner vorbeikomme. Natürlich sei es die Tradition des Picaro-Romans. Aber auch Dostojewskijs „Idiot“ oder den Blechtrommler Oskar Matzerath gelte es zu erwähnen. Beim Schreiben aber, sagt er, habe Peter Holtz seine ganz eigene Entwicklung genommen.

Ingo Schulze erklärt und liest, liest und erklärt. Den Leseteil eröffnet er mit dem ersten Buchkapitel, „in dem Peter ohne einen Pfennig in der Tasche eine Gaststätte aufsucht und erklärt, warum er das für richtig hält. Überlegungen zum Stellenwert des Geldes im Sozialismus.“

Dabei ist es wohl kein Zufall, dass das Buch im Sommer 1974 beginnt, acht Tage vor dem 12. Geburtstag von Peter Holtz. Auch Ingo Schulze, geboren in Dresden, wird 12 in jenem Jahr, in dem die DDR bei der Fußball-WM in Hamburg durch ein Tor von Jürgen Sparwasser gegen die BRD gewinnt, also den Klassenfeind besiegt.

Ein stets sanfter Humor weht hier und in den folgenden Passagen durch das Buch und erfrischt sicht- und hörbar das Publikum. Die gut einstündige Lesung führt abschließend in das Jahr 1998  und zu jenem Kapitel, „in dem Peter sagt, was er erreicht hat und warum er glücklich ist. Eindringlicher Aufruf, den Kampf fortzusetzen. Das Versprechen der Liebe. Ende des Romans.“

Ein heißes Finale mit dem Schelm und dem Geld, den beiden Hauptfiguren des Buches: Zünd an, sonst bist du verloren! Peter Holtz, der gläubig erst den Kommunismus beim Wort nimmt, später das Christentum und dann den Kapitalismus mit seinen Markt-Verheißungen, dieser Peter Holtz also verbrennt auf dem Berliner Alexanderplatz sein Geld. Große Scheine.

Während Ingo Schulze in der Buchhandlung am Erfurter Anger diese schöne feurige Szene liest, sitzt er mit dem Rücken zu einem großen Regal voller Bücher. Voller Geldbücher. Eines trägt den Titel „Über Geld reden“. Gleich daneben steht „Wie lege ich 5000 Euro optimal an?“ Und daneben lockt: „Wie lege ich 10 000 Euro optimal an?“

Der Berichterstatter freut sich über den gelungenen dramaturgischen Witz des Zufalls, der angemessen für den Dichter scheint, der früher Dramaturg an einem Thüringer Theater war.

Dann, die Lesung ist vorbei, der Beifall verklungen, gibt es die Gelegenheit, den Gast zu befragen.Ob er seinen Helden beim Schreiben gemocht habe? Dieser Tor ohne Arg sei ihm schon ans Herz gewachsen, sagt Schulze, aber er identifiziere sich nicht mit ihm.

Warum er Peter Holtz zu Wendezeiten ins Koma habe fallen lassen? Der Autor verweist auf die Dramatik des Weltenwechsels und das Tempo der Veränderungen.

Ob er überlegt habe, den Roman in die Gegenwart zu holen? Mögliche Variante, lautet die Auskunft, doch er habe sich letztlich für 1998 entschieden, für die politische Zäsur mit Kanzler Schröder und Rot-Grün.

Auch eine Frage, die gar nicht gestellt wird, beantwortet er, nämlich die, warum er im Präsens geschrieben habe. Weil nichts vergangen sei.

Zum Schluss noch ein Kompliment, das in ein Fragezeichen gekleidet ist: Ob es denn eine Fortsetzung des Romans geben werde?  Er denke nicht daran, er glaube nicht, eigentlich nicht. Aber eigentlich sollte man nie nie sagen. Wer weiß? Ingo Schulze muss schmunzeln und bekommt noch einmal viel Beifall.

„Geld oder Leben?“ Nie war das Motto der Herbstlese 2017 passender als an diesem Abend.

Ingo Schulze bei Hugendubel

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