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Erfurter Herbstlese
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Okt. 19 2016

Premiere vor der Premiere: Jutta Voigt bringt ihr Buch „Stierblut-Jahre“ über die Boheme des Ostens nach Erfurt mit

Das Leben der Anderen

Im neuen Buch von Jutta Voigt kommt, ein kleines bisschen, auch Erfurt vor.
Im neuen Buch von Jutta Voigt kommt, ein kleines bisschen, auch Erfurt vor.

Von Sigurd Schwager

Keine Herbstlese ohne das entschwundene, verblichene Land, ohne Geschichten von Autoren, die in der DDR gelebt haben, die geblieben oder gegangen sind oder gegangen wurden. Auch die 20. Erfurter Herbstlese hat in dieser Hinsicht manch Interessantes zu bieten.

Guntram Vesper zum Beispiel hat das Lese-Publikum mit seinem Erinnerungsroman „Frohburg“ tief in die frühen DDR-Jahre in der sächsischen Provinz eintauchen lassen. Auf den gebürtigen Frohburger Vesper folgt nun am selben Leseort in der wieder dichtgefüllten Buchhandlung Hugendubel die altersgleiche gebürtige Berlinerin Jutta Voigt. 

Schauplatz ihres Buches sind die urbanen Zentren der DDR. Ostberlin vor allem, aber auch Leipzig, Dresden, Halle und sogar ein wenig Erfurt. Die Journalistin Jutta Voigt, die einst für den „Sonntag", den „Freitag“ und die „Wochenpost“ schrieb und heute Kolumnistin der „Zeit“ ist, nennt ihr neues Buch „Stierblut-Jahre“. Ein Titel, den der im Westen des Landes sozialisierte Leser auf Anhieb kaum verstehen würde, gäbe es nicht die erklärende Unterzeile „Die Boheme des Ostens“.

„Stierblut-Jahre“ ist, so sieht es auch die Verfasserin, der Abschluss einer Trilogie, zu der „Der Geschmack des Ostens“ und „Westbesuch“ gehören. Zusammen ergeben sie eine kleine Geschichte der DDR-Alltagskultur. Ihr gehe es in diesen Büchern um die Zwischentöne, hat Jutta Voigt in einem Interview betont.

Eben diese Zwischentöne brächten die Wahrheit zum Klingen, nicht die Paukenschläge der Klischees: Alles grau. Alles gleich. Alles Gänsemarsch. Die Zwischentöne erzählten die Details und die Verspieltheiten des Lebens.

Bezogen auf die „Stierblut-Jahre“ sagt sie: „Vermutlich gab es im Osten mehr bohemehaftes Leben als anderswo, denn es war die einzige Möglichkeit, Konformität und Langeweile zu entkommen. Bohemiens sind selten Dissidenten, die Subversion bestand im Spiel.“

Das Ganze sei sehr persönlich, sehr subjektiv erzählt. Ein Sachbuch zwar, aber eines von spezieller Art. Eine Montage aus Fakten und Fiktionen, Dokumenten und Erzählungen aus vierzig Jahren Ostboheme. „Die Übereinstimmung von Künstlern und Partei war eine kurze Illusion, die Enttäuschung folgte auf dem Fuße, schon Ende der 50er, aber ganz deutlich Mitte der 60er Jahre. Künstler waren hoch angesehen, sie wurden subventioniert und prämiert. So lange sie brav waren und nicht widersprachen.“

Die Ausschnitte, die Jutta Voigt in Erfurt liest, illustrieren das Gesagte anschaulich. Sie eröffnet mit Jack Londons Stoßgebet: Der Himmel bewahre euch vor den großen Haufen der Durchschnittsmenschen . . . Dann der Übergang zur DDR: „Es war einmal ein Land, in dem Lampen ohne Fransen und Kaffeetassen ohne Blümchen die Parteitage beschäftigten. Ein Land, in dem Filme, Opern und Tänze verboten wurden, weil sie ein paar alten Männern nicht gefielen . . ."  

Ob sie sich vorstellen könnten, dass es in diesem Land eine Boheme gab, fragt Jutta Voigt ihre Leser und antwortet selbst: „Die Geschichte der Boheme de Ostens ist eine von Aufbruch und Enttäuschung, von Avantgarde und Gleichgültigkeit. Aber auch eine von der Lust des Spiels und der Macht des Übermuts.“

„Es gab diese Boheme von Anfang an", schreibt und liest Jutta Voigt. „Ihre Opposition über die Jahrzehnte war das Anderssein, das andere Leben jenseits der Konformität, es war die Behauptung des Individuums, die Suche nach dem verlorenen Ich in einer Gesellschaft des wortbrüchigen Wir.“

Das Publikum hört konzentriert zu. Manchmal, wenn ein erinnerndes Signalwort fällt, wird es mit Nicken und zustimmenden Raunen bedacht. Zum Beispiel der den Titel liefernde Satz: „Die Boheme des Ostens rauchte Kette und trank Rotwein, am liebsten Stierblut.“

Die Boheme trägt viele Namen. Jutta Voigt hat in den Episoden des Buches viele bekannte Künstler der DDR und andere Prominente versammelt und lässt sie an berühmten Orten, oft in der Berliner „Möwe“, agieren. Und immer wieder stößt man im Buch und an diesem Abend auf ein Wort, auf das Wort Spiel. Denn darum geht es in ”Stierblut-Jahre”: ums Spielen.

In Erfurt zur Figur der Madleen in ihrem Buch befragt, bekennt sich Jutta Voigt zu ihrem Alter Ego. Es sei ein Spiel mit dem Ich und mit Madleen.

Nach einer Stunde geht die Lesung und damit eine Premiere vor der offiziellen Premiere in Berlin zu Ende. Denn Jutta Voigts Erfurter Lesung ist ihr allererster öffentlicher Auftritt mit „Stierblut-Jahre“. Das Publikum verabschiedet sie mit herzlichem Beifall, und die sichtlich bewegte Autorin sagt: „Ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben, mein Lampenfieber zu besiegen.“

Jutta Voigt in der Buchhandlung Hugendubel

Fotos: Holger John

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