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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 01 2013

Das Leben ist kein "Südbalkon"

Katharina Hartwell, Isabella Straub und Sarah Stricker (v.l.n.r.)
Katharina Hartwell, Isabella Straub und Sarah Stricker (v.l.n.r.)

Seit dem letzten Jahr gibt es bei der "Herbstlese" ein Forum für Romandebüts, bei dem drei Erstlinge vorgestellt werden. Die Auswahl trifft eine kleine Jury von Frauen (reiner Zufall, dass kein Mann dabei ist!), die alle beruflich mit dem Lesen zu tun haben, aber auch privat nicht davon lassen können und wollen: Die Buchhändlerinnen Petra Häusler und Doreen Wilhelm, die beide bei Hugendubel arbeiten, die Germanistin und Journalistin Christina Onnasch, Christina Klauke von der Stadt- und Regionalbibliothek sowie Heike Mahnert und Monika Rettig von der "Herbstlese". In diesem Jahr haben sie sich erneut durch etliche Debütromane gelesen. Die drei Autorinnen, die schließlich ausgewählt wurden, haben sich letzten Freitag im ausverkauften Café Nerly dem Votum des Publikums gestellt.

Unter der Moderation von Hanno Müller (Thüringer Allgemeine) machte Sarah Stricker den Anfang. Allen Fragen nach autobiographischen Bezügen nahm sie gleich eingangs den Wind aus den Segeln, indem sie den ersten Satz aus Eugen Ruges aktuellem Buch zitierte: "Ich habe diese Geschichte erfunden, um zu erzählen, wie es wirklich war." Aber auch die ersten beiden Sätze in Sarah Strickers eigenem Buch haben es in sich: "Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte mein Großvater ihr nie erlaubt." Diesen bestechenden, bissig-ironischen Ton beherrscht Sarah Stricker bestens, aber er ist nicht der einzige, den sie in ihrem Roman "Fünf Kopeken" anschlägt. Ob ihrer Hässlichkeit bleibt der Mutter der Erzählerin scheinbar gar keine Wahl: Sie wird ein hochintelligentes Wunderkind mit vielerlei Talenten - nur ein Talent fehlt ihr völlig: das zur Liebe. Hinter der Fassade von Perfektion, Fleiß und Reinlichkeit, die diese Frau um sich errichtete, gab es aber doch eine geheim gehaltene Leidenschaft, von der die Tochter erst erfährt, als ihre Mutter schon im Sterben liegt. "Fünf Kopeken" ist ein souverän erzähltes Debüt, in dem sich der "Kunstgriff, die Rollen von Mutter und Tochter in jeder Hinsicht zu vertauschen, als verblüffend tragfähig erweist" (FAZ). Entstanden ist diese beeindruckende Geschichte in Israel, wo die Autorin seit 2009 lebt.

Als zweite stellte Isabella Straub ihren Roman "Südbalkon" vor. Die in Wien geborene Autorin lässt uns die Welt mit den Augen von Ruth Amsel betrachten. Und das ist ein bitterböser Blick, hat diese arbeits- und kinderlose Frau über fünfunddreißig doch ihren "gesellschaftlichen Auftrag in dreifacher Hinsicht" verfehlt, wie es sarkastisch heißt. Ruth muss zweimal pro Woche bei der "Gesellschaft für Wiedereingliederung" antreten, aber es ist klar, dass sie, die nach abgebrochenem Medizinstudium und einem Langzeitpraktikum in einer Todesanzeigenredaktion nie wirklich eingegliedert war, keine Chance bekommen wird. Da Ruth das weiß, tut sie alles, um ja nicht aus dem Förderprogramm herauszurutschen. Oder, wie es Isabella Straub bei der Veranstaltung so treffend wie ironisch formulierte: Von der Kurzzeit- endlich in die Langzeitarbeitslosigkeit zu gelangen. Dieser Satz veranschaulicht sehr genau das literarische Mittel, das Isabella Straub meisterlich einsetzt: die harte, mit abgründigem Witz formulierte Zuspitzung, die die Realität entlarvt.

Die dritte im Bunde war Katharina Hartwell, die ihr schriftstellerisches Handwerk am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig gelernt hat. Dass sie es bestens beherrscht, zeigt sie in ihrem Roman "Das fremde Meer". Da wagt eine junge Autorin das Fabulieren, sie wechselt in zehn Geschichten immer wieder die Erzählform - mal Märchen, mal Science-Fiction, mal Novelle - und setzt auch beim Thema ganz oben an: Es geht um Liebe und Angst. Die Liebe zwischen Jan und Marie wird in allen anderen Geschichten gespiegelt, und die Angst, den geliebten Menschen wieder zu verlieren, auch. Für den Leser gibt es in diesen wiederkehrenden Motiven, Personen und Spiegelungen sehr viele "Codes" zu entschlüsseln, sagte Katharina Hartwell im Gespräch mit Hanno Müller. Und sie sagte noch etwas ganz Wichtiges: Ihr gehe es in diesem Roman auch um das Erzählen selbst, um seine heilende und rettende Kraft.

Nach der Vorstellung der drei Autorinnen und ihrer Bücher hatte das Publikum wirklich die Qual der Wahl, denn alle drei Romane sind hochinteressant, und alle drei Autorinnen präsentierten sich von ihrer besten Seite. Aber es musste gewählt werden, und die Wahl fiel auf Isabella Straub und ihren "Südbalkon". Diese freute sich riesig und bekam von Herbstlese-Programmleiterin Monika Rettig eine Grafik von Martin Schink überreicht und von Hugendubel-Filialleiter Günter Harnecker die Einladung zu einer Solo-Lesung im Frühjahr 2014 in der Buchhandlung Hugendubel.

Danke an Hugendubel für die großartige Unterstützung des Debütantensalons und danke an alle Gäste fürs Mitmachen!

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