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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 08 2013

Denis der Teufer

Die Bücher einer ganzen Saison: Denis Scheck weiß, was unter dem Weihnachtsbaum liegen sollte - und was lieber nicht. Foto: Holger John
Die Bücher einer ganzen Saison: Denis Scheck weiß, was unter dem Weihnachtsbaum liegen sollte - und was lieber nicht. Foto: Holger John

Ohne Listen geht es im modernen Kulturbetrieb nicht. Für fast alles gibt es inzwischen eine, die wichtigsten sind mit die, die Anspruch auf einen Literaturpreis bedeuten. Es gibt sie in der Langfassung und in der kurzen Version; je weniger Namen auf ihr zu finden sind, desto größer ist der Ruhm.

Selbst Denis Scheck kommt nicht ohne Liste aus. Gleich einem Herold kündet sie von seiner baldigen Ankunft. Zudem ist sie ein Auftragspapier. Was auf der Liste steht, gehört auf das Podium des Kritikers und auf den Büchertisch. Dass er daraus zitiere und die auf das unterhaltsamste  Belehrten den einen oder anderen Schmöker gleich käuflich erwerben können. Es ist die Fanfare des Herbstlese-Ausklangs: Die Liste ist da, Denis Scheck naht.

Seine Audienz geht dieses Jahr im Atrium der Stadtwerke über die Bühne, der vorläufige Endpunkt einer Reise durch die Stadt. Im Café Nerly sollte einst die Premiere sein, doch der Kritiker und die Herbstlese ziehen ständig um. Es ist ein Quest der besonderen Art, die Suche nach einem Raum, der in Erfurt die Nachfrage zu fassen vermag. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Denis Scheck und sein Publikum sich im Theater die Ehre geben.

Doch zurück zur Liste und zum Büchertisch. 56 Titel sind auf ihr notiert, darunter erstaunlich viele Klassiker. Was will der Kritiker damit sagen?

Die Antwort gibt es gleich zu Anfang des großen Herbstlese-Finales. Zumindest fast. Denn bevor Denis Scheck sich und seine Liste erklärt, nutzt Dirk Löhr die Chance zu größeren Danksagungen: an die Sponsoren des Festivals, die Stadtwerke Gruppe, das IBB-Hotel, die Buchhandlung Hugendubel, und an die Medienpartner von der Zeitungsgruppe Thüringen und dem mdr. Danach dürfen sich die Mitarbeiter der Herbstlese über eine Anerkennung ihrer Arbeit in den letzten Monaten freuen. Für Programmchefin Monika Rettig sowie Heike Mahnert und Lisse Reske aus der Geschäftsstelle gibt es einen Kino-Gutschein aus den Händen des Vorsitzenden des Herbstlese-Vereins.

Doch dann ist es soweit. Denis Scheck beginnt und lüftet das Geheimnis seiner opulenten Liste. Wie kann sich ein Bücherfreund heute noch in der Flut der Neuerscheinungen orientieren? Da gibt es, erklärt der Kritiker, einige Möglichkeiten. Er nennt Bestsellerlisten, historische Ereignisse – also den feuilletonistischen Kalender – und diverse Preise, die ein Autor gewinnen kann. All diese Chancen des gepflegten Zurechtfindens haben es auch auf seine Liste geschafft. Er startet mit den Bestsellern – und zwar denen weltweit und für (fast) alle Zeiten.

Ganz stimmt das nicht. Denn ehe die Show „Denis Scheck lobt und warnt vor Büchern“ an Fahrt gewinnt, arbeitet er sich noch an einem besonderen Druckwerk ab und zerreißt Ruth Maria Kubitscheks „Anmutig älter werden“ nach allen Regeln seiner Kunst. Nein, Esoterik ist nicht seine Sache, gleichwohl er auf alle Bücher zeigt, die das Konterfei ihrer Autoren auf dem Titel tragen. Meist sind die so aus marketing-technischen Gründen Abgebildeten zu einiger Prominenz außerhalb des Literaturbetriebes gelangt; es handelt sich also um einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Verschriftlichung ihrer Gedanken nicht als ihr erstes Talent zu Tage trat.

Der Rat von Denis Scheck klingt einfach. Solche Bücher im Garten vergraben, zwei Jahre warten, danach das Herz gründlich prüfen und – wenn es eben gar nicht anders geht – erst dann das Druckwerk lesen.

Jetzt aber die weltweiten Bestseller. Es geht um Bücher, die sich besonders gut verkaufen, von Platz 10 hinauf bis zur Nummer 1. Mit der ihnen eigenen Qualität muss der merkantile Erfolg nicht allzu viel gemein haben, erklärt Denis Scheck, und bringt die erste seiner goldenen Regeln für einen Kritiker zur Anwendung: Du sollst nicht lügen.

Von dieser Regel macht er dann kräftig Gebrauch. Er watscht seinen Lieblingsfeind Paulo Coelho ab, verweilt ein wenig gönnerhaft bei J. D. Salinger und gibt ein klares „Daumen hoch“ für Dan Brown. Dessen Buch „Sakrileg“ habe keinen größeren Anspruch, als ein Schundroman zu sein, dafür aber ein wahnsinnig spannender.  Er verweilt ein bisschen bei Henry Rider Haggard, bei C. S. Lewis und ein wenig länger bei Agatha Christie, die er unter Wert verkauft findet.

Richtig interessant wird es bei Cao Xuequins „Der Traum der Roten Kammer“, einem chinesischen Epos auf dreitausend Seiten. Leider ist es nur den Experten in einer teuren Studienausgabe zugänglich, das normale Publikum wird mit einem auf zehn bis 15 Prozent zusammengeschmurgelten Text abgefunden.

Es folgt Saint-Exupery und dessen „Der kleine Prinz“, für Denis Scheck der gelungene Gegenentwurf zu Coelho und ein sehr gutes Beispiel dafür, wie sich „spirituelle Themen mit Anstand behandeln“ lassen. Mit einigem Wohlwollen geht es zu Tolkien und Dickens.

Dann sind die Bestseller geschafft. Denkt das Publikum und wird von einer Scheckchen Volte überrascht. Es gibt einen Sprung zurück auf Platz 11 und zu Vladimir Nabokovs „Lolita“ zu erleben.

Nicht ohne Grund, denn Denis Scheck demonstriert, was für ihn gute Literatur auszeichnet: Das Zusammenspiel von Geschichte und Sprache. Nur ein überzeugender Plot reicht ihm nicht, Bestand findet vor seinem kritischen Auge nur ein Autor, der tief im Bergwerk der Sprache schürft und neue Stollen gräbt respektive teuft. Eine tolle Geschichte ohne diesen sprachlichen Tiefgang bleibt ihm nur Unterhaltung oder feiner ausgedrückt: Die Sprache muss dem Autor zu mehr dienen als nur zum Transport von Gedanken. So sieht er es. Er ist Denis der Teufer.

Doch weil gerade von Bestsellern die Rede ist, gilt der nächste Halt den „Shades of Grey“. Eine Passage liest Denis Scheck vor, mit donnernder Stimme und einigem Abscheu. Wenn schon Porno, so sein Verdikt, dann nicht dieser Kram, dann schon richtiges Zeugs, dann am besten Nicholson Bakers „Haus der Löcher“.

Die nächste Orientierungshilfe im literarischen Angebot sind Jahrestage und der Kalender. Denis Diderot zum Beispiel wäre heuer 200 Jahre alt geworden. Ein ziemlich moderner Typ für Scheck, der sich Zeit seines Lebens mit der Obrigkeit anlegte. Oder Michael Krüger, der Hanser-Verleger, der, völlig zu Recht hochgeehrt, gerade seinen 70. Geburtstag feiert. Zur Freude des Publikums und um Krüger als Lyriker zu preisen zitiert Denis Scheck ein Gedicht, das in der Nähe Erfurts spielt, in einem Hotel der Toten.

Von hier ist es nur ein klitzekleiner Schritt hinüber zu Stephen King, dem „Charles Dickens“ unserer Zeit. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Amerikaner einer der größten lebenden Schriftsteller ist. Denis Scheck hat ihn für seine letzte Ausgabe von „Druckfrisch“ befragt und dabei höchst bemerkenswerte Dinge erfahren. So erzählte King von seiner Nanny, die, mit einer bemerkenswerten Flatulenz geschlagen, ihre Winde auf die Gesichter der gerade zu Bett gebrachten Kinder fahren ließ; ein Vorgeschmack auf die Literaturkritik, meinte der Schriftsteller.

Über das Gastland der vergangenen Frankfurter Buchmesse, Brasilien, findet Denis Scheck den Weg zu Ernst Jünger, der einen Reisebericht über das Land in Südamerika schrieb. Sein Hauptaugenmerk liegt aber auf „In Stahlgewittern“, über das inzwischen mehr gesprochen als das im Buch gelesen wird. Das sollte sich ändern, liegt doch jetzt bei Klett-Cotta eine historisch-kritische Ausgabe vor, die sieben (!) Varianten des Werkes vereint.

Es folgen die Preise, der Nobelpreis zuerst. Keine Frage, dass Alice Munro 2013 eine sehr würdige Preisträgerin ist. Es folgen der Büchner-Preis für Sibylle Lewitscharoff und der Buchpreis für Terézia Mora. Denis Scheck hätte lieber Reinhard Jirgl einen Pries zugedacht. Und dass, obwohl er „Nichts von euch auf Erden“ erst im dritten Anlauf bewältigte und verstand. Als „light“-Versionen empfiehlt er Gerorg Klein mit „Die Zukunft des Mars“ und von Hannes Stein „Der Komet“.

Einige Augenblicke später wird Denis Scheck grundsätzlich: Es geht um den Ersatz der Begriffe Neger oder Türke in vor längerer Zeit geschriebenen Kinderbüchern durch korrektere Begriffe wie Südseekönig bei Astrid Lindgren oder Abenteurer bei Otfried Preussler. Ein schwieriges Thema für den Kritiker, zumal er sich unlängst das Gesicht schwarz schminken ließ, um in „Druckfrisch“ für die Originaltexte zu werben. Der Sturm der Entrüstung, den sein „blackfacing“ in den Feuilletons der Republik entfachte, weht bis in das Atrium der Stadtwerke hinein.

Der Rest des Abends gilt heiteren Empfindungen, im „literarischen Schweinsgalopp“ setzt es Empfehlungen. Es sind die aktuellen Bücher von Hans Pleschinski, Martin Walser, Silvia Bovenschen, Ambrose Bierce, John Williams, Evelyn Waugh, Ian McEwan, Rüdiger Safranski, Patrick Bahner, Christoph Blain und Nigel Slater. Den Schlusspunkt setzt Denis Scheck mit einem Hörbuch der Herren Klaus Bittermann und Harry Rowohlt. Der Titel von „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol“ sage doch alles.

Bleibt ein allerletzter Appell an das Publikum. Es soll auf seine eigene Stimme hören, sich auf das eigene Urteil verlassen: „Trauen Sie keinem Kritiker!“ Nicht einmal Denis Scheck?

Die Liste der besprochenen Bücher (und noch ein paar mehr) sind hier http://bit.ly/1jxYAX9 zu finden.

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