Sibylle Anderl erklärt, woher die Astrophysik weiß, was sie über das Universum zu wissen glaubt
Die Unendlichkeit im Rosinenteig
Von Elena Rauch
Angenommen, ein Alien landet in einem voll besetzten Fußballstadion. Aus diesem Bild soll nun der intergalaktische Gast den typischen Lebensverlauf eines Menschen ableiten. Etwa so ließe sich die Erkenntnissituation eines Astrophysikers beschreiben, wenn er sein Teleskop in das All richtet. Weiße Zwerge, rote Riesen, dunkle Materie, schwarze Löcher: Woher weiß er überhaupt, was er über das Universum zu wissen glaubt? Bleibt nicht alles Annahme, solange es nicht bewiesen ist?
Spätestens an dieser Stelle dürfte mancher Herbstlese-Gast das Glas Wein bedauert haben, das er sich im Hörsaal genehmigte. Es bedurfte schon einiger Konzentration, um bei Sibylle Anderls kometenschnellem Vortrag nicht den Faden zu verlieren. Es wäre aber auch schade gewesen. Die Frau hat es drauf. Sie ist nicht nur Astrophysikerin mit Doktortitel, sie ist auch Philosophin. Eine interessante Mischung, denn zum Brot des Philosophen gehört bekanntlich der Zweifel.
Nicht, dass sie an der Erkenntnismöglichkeit über himmlische Sphären zweifelt. Dafür gibt es zwar keine Labore, aber physikalische Gesetze, theoretische Modelle, Kausalketten. . . Astrophysiker müssen ermitteln wie weiland Sherlock Holmes: Aus vorgefundenen Spuren eine Geschichte rekonstruieren, die plausibel scheint. Oder was ein Astrophysiker so unter „plausibel“ versteht. Das sich ausbreitende Weltall, in dem sich Galaxien voneinander entfernen wie Rosinen in einem Hefeteig - da hat man ja wenigstens ein Bild im Kopf. Aber wer hat diesen Teig angerührt und was war vorher? Ratlosigkeit in den Rängen, man verlangte Aufklärung. Davor, antwortete die Astro-Philosophin mit einem hübschen Bonmot, war Gott mit seinem Rohrstock, um derart dummen Fragern eins überzuziehen.
Was wohl heißen soll, die Astrophysik führt den Menschen an die Grenzen von Erkenntnis. Und ist sehr nah an der Sinnesfrage. Gibt es einen Plan? Oder hat Einstein womöglich doch geirrt in seiner Annahme, Gott würfelt nicht?
Bei so vielen Unwägbarkeiten wünschte man sich als Zuhörer auf dem Nachhauseweg ein bisschen Verlässlichkeit zurück. Ein Blick auf den guten alten Mond, da weiß der Mensch doch wenigstens, woran er ist. Aber der war nicht da, verschwunden hinter dunkler Materie, die der Erdling Nebel nennt.
Elena Rauch ist Redakteurin bei der „Thüringer Allgemeinen“ in Erfurt. Dieser Text von ihr ist am 10. November 2017 im Feuilleton der Zeitung erschienen.