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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Sept. 20 2019

Ein Herbstlese-Extra mit den Herren Habeck und Mensching im KulturQuartier (I)

Die Zwei

Romy Gehrke im Gespräch mit den Herren Habeck und Mensching.   (Foto: Herbstlese / Holger John)
Romy Gehrke im Gespräch mit den Herren Habeck und Mensching. (Foto: Herbstlese / Holger John)

Von Sigurd Schwager

Am Ende stellt der Mann, der Deutschlands erster grüner Kanzler werden könnte, dem Publikum sanft lächelnd eine Frage: „Der Abend war ganz gut. Oder?“ Man sieht ihm dabei an, dass er die Antwort längst kennt, die sogleich folgt: Beifall. Starker Beifall.

In der Tat ist das Erfurter Herbstlese-Extra „Poesie & Politik“ im ausverkauften KulturQuartier Schauspielhaus ein extrastarker Auftakt des 23. Jahrgangs der Thüringer Lesereihe. Man darf hinzufügen: Kein Wunder bei diesen Gästen Zum einen Robert Habeck, soeben 50 geworden, geboren in Lübeck, Schriftsteller und Doktor der Philosophie, Grünen-Chef und aktuell d e r politische Medienstar des Landes. Zum anderen Steffen Mensching, 60, geboren in Ostberlin, Clown, Kabarettist, Schauspieler, Regisseur, Übersetzer, Stückeschreiber, Lyriker, hochgelobter und preisgekrönter Romancier, seit elf Jahren sehr erfolgreich als Geschäftsführer und Intendant des Theaters Rudolstadt tätig. Solch ein künstlerisches Multitalent gibt es kein zweites Mal im Freistaat. Und gewiss könnte er auch noch Minister.

Der Bühnenstar Habeck und der Bühnenkönner Mensching agieren in Erfurt in jeder Beziehung auf Augenhöhe. Nachdenklich und schlagfertig, präzise und witzig sind beide. Ihr Auftritt bedarf eigentlich keiner Moderation. Kluge Antworten gäbe es auch ohne Fragen. Der Satz, den Habeck für seinen eigenen Netzauftritt ausgewählt hat, wäre auch einer für Mensching: „Wir können nicht nicht politisch sein.“ Überhaupt wird rasch klar, dass sie weit mehr eint als trennt - und also Abwesenheit von Streit zu erwarten ist. Abwesenheit von Langeweile aber auch.

Das konzentriert zuhörende und mit Zwischenapplaus nicht geizende Publikum erlebt einen hochpolitischen, aber zum Glück keinen wahlkämpferischen Abend. Und weil wir seit Karl Kraus wissen, dass zur Vollkommenheit unbedingt noch ein Mangel gehört, sorgt Mensching in Erfurt für einen kleinen, indem er beim bekannten Visionen-Arzt-Zitat statt Helmut Schmidt Harald Schmidt als Autor benennt.

Der sonst so sprachsichere Habeck hat sich seinen Mangel, wir erinnern uns, bereits im Januar erworben. Da verwechselte er „bleibt“ mit „wird“ und schrieb, die Grünen würden alles dafür tun, dass Thüringen ein demokratisches Land werde.

Jetzt, im September, hält ihm das in Erfurt keiner mehr vor. Habeck und Mensching treffen durchweg den richtigen Ton. Eindringliche Worte reisen durch Raum und Zeit, führen zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und über den Mauerfall bis in die Gegenwart und zu den großen Zukunftsängsten und den möglichen Hoffnungen in einer Welt des extremen Wandels. Es geht um etwas, so die Botschaft, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Der Politiker aus der Generation Golf und der Theatermann sprechen viel und warmherzig über die Generation Greta, sie erinnern an die Wortgefechte von Tellkamp und Grünbein, stellen Höckes jüngste Drohungen gegenüber unliebsamen Journalisten in das Regal, wo das Straches Ibiza-Video schon steht.

Viel Kluges, Bedenkenswertes wird da oft sehr pointiert vorgetragen. Und vor allem frei von Besserwisserei. Man habe die Wahrheit nicht mit Löffeln gefressen – was Habeck über sich und die Grünen sagt, gilt nicht nur für sie. Einander zuhören, miteinander reden ist wichtig.

Bei alldem wird „Poesie & Politik“, das ausgerufene Thema des Abends, nicht vergessen. Dass Kunst und Politik sich sehr wohl etwas zu sagen haben, bejahen beide und beglaubigen es durch ihr Leben. Der Zusammenhang zwischen Politik und Sprache wird erkundet. In der Politik, das hat Habeck bereits zu anderer Gelegenheit gesagt, ist die Sprache das eigentliche Handeln.

Moderatorin Romy Gehrke (MDR) bittet schließlich die Gesprächspartner, dem geneigten Publikum einen Lieblingstext vorzutragen. Robert Habeck macht daraus eine nette kleine Show. Er wolle Paul Celan lesen, sagt er. Eigentlich. Oder doch lieber Brecht? Die Zuhörer mögen bitte entscheiden. „Beide!“ schallt es aus dem Saal.

Habeck beginnt aus der langen Dankesrede zu lesen, die Celan bei der Verleihung des Büchner-Preises im Oktober 1960 hielt. Die ausgewählte Passage geht so „Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit. Noch im Hier und Jetzt des Gedichts – das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart –, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.“

Literaturwissenschaftler Habeck, der viel von Celan versteht, versteht auch seine Zuhörer und wechselt deshalb zur Liebe und zum blutjungen Bertolt Brecht. Er rezitiert: 


Erinnerung an die Marie A.

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.

Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.


Stille im Saal. Das sei Brechts schönstes Liebesgedicht, sagt Robert Habeck. „Schön und irritierend.“

Steffen Mensching kontrastiert dann kurz und knapp und sehr gegenwärtig mit Goethe aus dessen Maximen und Reflexionen: „Beim Zerstören gelten alle falschen Argumente, beim Aufbauen keineswegs. Was nicht wahr ist, baut nicht.“

Dann naht nach zwei für Hirn und Herz kurzweiligen Stunden das Ende der Veranstaltung. Muss nahen. Er habe gleich noch eine Telefonkonferenz, sagt der Politiker Habeck, und der Kunstmensch Habeck merkt dazu an, dies sei der Killer eines schönen Abends.

Rauschender Beifall für einen sehr lebendigen Denkabend.

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