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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 17 2019

Unterhaltsames Herbstlese-Finale mit Denis Scheck im Kaisersaal

Druckfrischreif

Gab gewohnt unterhaltsam wie Klug den Herbstlese-Rausschmeißer: Denis Scheck.
Gab gewohnt unterhaltsam wie Klug den Herbstlese-Rausschmeißer: Denis Scheck.

Von Sigurd Schwager

In der Nacht vor diesem Dezemberabend mit Denis Scheck im ausverkauften Kaisersaal kann man sich am Bildschirm druckfrisch auf das finale Herbstlese-Vergnügen 2019 einstimmen lassen. Denn zur Geisterstunde begutachtet im Ersten Deutschlands bekanntester Literaturkritiker wieder einmal jene Bücher, die es auf der Bestsellerliste ganz weit nach oben geschafft haben, in diesem Fall die Top Ten der Belletristik.

Vier der ersten fünf Werke übereignet Scheck dem Altpapier-Container. Platz 1: „Die Sonnenschwester“ von Lucy Riley - wer das lese, der habe, mit Lagerfeld gesprochen, die Kontrolle über sein Leben verloren. Platz 2: „Das Geschenk“ von Sebastian Fitzek - literarische Vergewaltigung durch einen miesen Gewaltporno. Platz 3: „Opfer 2117“ von Jussi Adler-Olsen (auf der ARD-Liste im Netz heißt er „Adler-Olson“) - literarisches Junk Food. Platz 5: „Wie ein Leuchten in tiefer Nacht“ von Jojo Moyes – „Wäre dieser Roman ein Pferd“, ätzt Scheck, „man müsste es aus Mitleid erschießen.“ Auf Platz 4 bestätigt die Ausnahme die Regel: „Herkunft“ von Sascha Stanisic - ein grandioser Roman, ein formal bestechend, klug konstruiertes Leseabenteuer.

In Erfurt muss sich das Publikum nicht mit einer Aufzeichnung begnügen. Hier gibt er livehaftig und eingerahmt von schönen Büchern seit Jahren schon den Herbstlese-Rausschmeißer, den ultimativen Buchempfehler vor dem Fest. Er komme, sagt er, immer wieder sehr gern zur Herbstlese. Und wie man an den Gesichtern im Saal sieht und am rauschenden Begrüßungsbeifall hört, beruht diese Sympathie auf Gegenseitigkeit.

Zum Auftakt seiner Reise durch die literarische Welt des Jahres 2019 empfiehlt Denis Scheck wie erwartet erst einmal im Schnelldurchgang Bücher, die man unbedingt nicht lesen und erst recht nicht verschenken sollte. Dass dabei der Name Fitzek als Running Gag nicht fehlen darf, versteht sich von selbst. Neu allerdings ist in diesem Jahr, dass der Prolog, Schecks genüssliche Lästerei über das Bestseller-Elend, mit einer ebenso genüsslich zelebrierten Anmerkung in eigener Sache endet. Er stehe nun selber auf einer solchen Liste, sagt er mit vergnügt gespielter Ratlosigkeit.

Die erste richtige Station der Bücherreise 2019 ist dann das in jüngerer Zeit arg in Verruf geratene literarische Dach der Welt, wo der Nobelpreis haust. Denis Scheck würdigt das Werk der wunderbaren Olga Tokarczuk und begeistert sich für ihren monumentalen historischen Roman „Die Jakobsbücher“, ein tolldreistes Buch, das ihn außerordentlich beeindruckt habe.

Es folgt dann ein längerer Ausflug zu Peter Handke, dem großen Poeten und politischen Polarisierer. Scheck empfiehlt als Einstieg in sein Werk „Die Lehre des Saint-Victoire“. Später blickt er in den Saal, fragt „Können schlechte Männer gute Bücher schreiben?“ und liefert sogleich die Antwort: „Na klar!“ Wer nur Bücher von edlen, schönen Seelen lesen wolle, dem bliebe viel Weltliteratur verborgen.

Nach dem ausführlichen Exkurs aus gegebenem Anlass geht es Schlag auf Schlag weiter. Es folgen gut drei Dutzend Damen und Herren mit ihren starken Büchern. Denis Scheck preist Sascha Stanisic, den Deutschen Buchpreisträger 2019, sowie Jan Wagner und Federico Italiano für ihre große poetische Herausgeber-Tat „Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas.“ Scheck wirbt für zwei neue Bücher von Christoph Hein, der ihm immer intellektueller Maßstab gewesen sei, und stellt dazu Hans Magnus Enzensberger, den anderen Leuchtturm neben Hein. Der Kritiker verbeugt sich vor Autorinnen wie Andrea Wulf, Daniela Krien, Karen Köhler, Valeria Luiselli, Anne Carson, Lola Randl oder Judith Schalansky.

Er schwärmt für seine Krimi-Götter Heinrich Steinfest und Niklas Natt och Dag, die beide einarmige Ermittler im Einsatz haben. Bücher von und über Fontane werden nicht nur aus jubilarischen Gründen dringlich als Lesestoff empfohlen. Auch die besondere Schwäche des Denis S. für Michael Köhlmeier bleibt nicht unerwähnt. Aktuell gilt sie seinen Märchen, die so beginnen können: „Es war einmal ein Parteitag...“ Und Richard Dawkins‘ “Atheismus für Anfänger“ ist allemal ein gutes Geschenk zum christlichen Fest, findet Denis Scheck.

Seine letzte Eloge gilt der amerikanischen Hirnforscherin Maryanne Wolf und ihrem Buch, das sich der Frage widmet, warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. Genau diese Frage ist es auch, die den Literaturkritiker umtreibt. Ein Leben mit Büchern. Ein Leben für Bücher.

Bei so vielen Namen und Titeln, die durch den Raum fliegen, könnte die geneigte Zuhörerschaft im Saal leicht die Übersicht verlieren. Tut sie aber nicht. Die Veranstalter haben vorgesorgt und am Eingang Listen verteilt, auf denen alle Autoren und Werke verzeichnet sind. Wer sich umschaut, der sieht: Die Zahl derer ist beachtlich, die sich auf ihrem Zettel emsig Notizen machen - für das Bücherschenken.

Auf der Liste steht übrigens ganz am Schluss: Denis Scheck: „Schecks Kanon“, Piper. Der lässig-souveräne Herr Scheck zitiert sich im Kaisersaal natürlich nicht selbst. Als aber Beifall und Jubelpfiffe nach 90 unterhaltsamen Bücherminuten verklungen sind, betritt er noch einmal die Bühne, um ein Wort von Harry Rowohlt zu zitieren: Er sei bereit, das eigene Buch durch seine Unterschrift zu entwerten.

 

Herbstlese-Finale 2019 mit Denis Scheck

Fotos: Viadata

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