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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Dez. 02 2016

Der Satiriker Bernd-Lutz Lange erfreut das Herbstlese-Publikum im ausverkauften Kaisersaal

Ein Auslaufmodell erklärt sächsich fröhlich die Welt

Friedrich Schorlemmer notierte über Bernd-Lutz: „Lange hat geistige Weite durch sächsische Fröhlichkeit.“
Friedrich Schorlemmer notierte über Bernd-Lutz: „Lange hat geistige Weite durch sächsische Fröhlichkeit.“

Von Sigurd Schwager

Gäbe es einen Herbstlese-Publikumspreis „Unser Lieblings-Sachse“, dann kämen dafür zwei im heiteren Fach tätige Leipziger Autoren infrage, die gar keine Leipziger sind, jedenfalls keine gebürtigen: Stefan Schwarz (51) und Bernd-Lutz Lange (72). Beide haben auch zur Jubiläums-Herbstlese mühelos für ausverkaufte Häuser gesorgt und jeweils zu Beginn ihrer Auftritte glaubhaft versichert, dass sie nirgendwo auf dieser Welt vor einer größeren Zuhörerschaft lesen als in Erfurt.

Bernd-Lutz Lange stellt sein neues Werk „Das gabs früher nicht. Ein Auslaufmodell zieht Bilanz“ im Kaisersaal vor. Davor, dazwischen und danach geschieht, was es schon früher gab: eine stilvolle musikalische Begleitung des Vorlesers. Der Mann am Flügel ist wie schon beim letzten Erfurter Auftritt Rainer Vothel.

Über den Leipziger Kabarettisten und sein aktuelles Buch haben sich zwei andere Herbstlese-Stammgäste bereits ihre Gedanken gemacht. Der eine, Friedrich Schorlemmer, notiert den schönen Satz: „Lange hat geistige Weite durch sächsische Fröhlichkeit.“ Der andere, Denis Scheck, spricht druckfrisch im Fernsehen sein Kritikermachtwort. „Ein Buch wie ein Cordhosenanzug: irgendwie aus der Zeit gefallen muten die ziemlich bräsigen Erinnerungen des Leipziger Satirikers Bernd-Lutze Lange an. Nichts davon ist falsch. Aber wenn Lange schreibt: ‚In der heutigen Gesellschaft, in der es alles gibt, fehlt das Wichtigste: eine Vision. Die einzigen Götzen, die angebetet werden, heißen Wachstum und Profit‘, dann ist mir das für eine Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Bundesrepublik des Jahres 2016 einfach zu unterkomplex."

Unterkomplex? War da nicht was? Genau: Denis Scheck liebt dieses Wort und verschenkt es häufig an Autoren. Diese wiederum sollten es oberkomplex verschmerzen können, weil ja die Voraussetzung ihrer unterkomplexen Erwähnung der Bestsellerstatus ist.

Sein Buch erklärend, beginnt Bernd-Lutz Lange, Jahrgang 1944, in Erfurt zu lesen: "Es scheint mir, dass ich in eine Zeit geraten bin, in der vieles, was sich zum Teil über Jahrhunderte, aber wenigstens über Jahrzehnte erhalten hat, verschwindet. Das Buch ist nicht nach dem Motto geschrieben: Früher war alles besser, sondern: Früher war vieles anders."

Dann rezitiert er ein Gedicht seines sächsischen Landsmannes Erich Kästner, der ein Bild von der Welt Anfang des vorigen Jahrhunderts malt:

Die Stühle war‘n höher, die Straßen breiter,
der Donner lauter, der Himmel weiter,
die Bäume war‘n größer, die Lehrer gescheiter!
Und noch ein Pfund Butter, liebe Leute,
war drei- bis viermal schwerer als heute!

Da lacht das Erfurter Publikum zum ersten Mal und wird es später, immer wieder begleitet von zustimmendem Applaus, noch häufig lauthals tun. Wie das Buch, so der Abend: heiter, nachdenklich - und zwar in dieser Reihenfolge.

Wie nahe der Autor mit seinen Beobachtungen, mit seiner Lebensreise den Zuhörern und ihren Erinnerungen ist, merkt man deutlich. „Früher hat der Großvater oder die Großmutter dem Enkel die Welt erklärt“, liest Lange und muss sogleich aufhören, weil ihn Beifall unterbricht und der Saal den Satz vollendet.

Besonders langsam kommt der Vorleser beim Thema Fernsehen voran. „Am Sonntagvormittag saß ein Großteil der Ostdeutschen mit einem Volkabelheft oder etwas Ähnlichem vor dem Gerät, um die Programmvorschau des Westfernsehens mitzuschreiben.“ Mehrheitliches Nicken, Gelächter, Beifall. Dann der Wechsel ins Heute: „Mir scheint, im deutschen Fernsehen gibt`s inzwischen mehr Kommissare als früher in der Roten Armee!“ Wieder rauscht Beifall durch den Saal.

So geht das pausenlos gut anderthalb vergnügliche Stunden lang, bewusst kräftig mit Dialekt gewürzt. Im Grunde ist es gelesenes Kabarett mit Ausflügen auch ins Kalauer-Land.

Zum Schluss allerdings, wenn Bernd-Lutz Lange seine Betrachtungen „Von der ferneren und der etwas näheren Zukunft“ vorträgt, scheint es dem Berichterstatter, jetzt sei der Autor tatsächlich dabei, einen Cordhosenanzug aus dem Schrank zu holen.

Als Zugabe liest der Autor eine kleine, heimelige Adventsgeschichte. Dann verabschiedet er sich: „Alles Gute für Sie!“

Viel Beifall, Signierschlange und die Gewissheit: Beim nächsten Buch ist der Saal garantiert wieder ausverkauft.

Bernd-Lutz Lange im Kaisersaal

Fotos: Holger John

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